Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Kämpfen um jedes Leben

Bei Unglücken im Gebirge rückt die Bergwacht aus – Gerade in diesem Winter ist die Lage wegen des vielen Schnees angespannt

- Von Uwe Jauß

OBERSTDORF - Die Erinnerung wiegt schwer: „Vier Leute sind von der Lawine verschütte­t worden“, erzählt Xaver Hartmann. „Es muss 1992 gewesen sein – am Hohen Licht bei der Rappenseeh­ütte.“Lange ist es her. Bei der Jahreszahl hat sich Hartmann leicht vertan. Laut BergwachtC­hronik war es der 28. Dezember 1989. Ein gewaltiges Schneebret­t riss sieben Bergsteige­r aus Kempten mit. Drei konnten sich selbst befreien, die anderen nicht. Jedenfalls berichtet der in Ehren ergraute Bergwachtl­er, er sei mit seinem Hund als Erster auf dem Lawinenfel­d in diesem letzten Oberallgäu­er Winkel gewesen.

Während Hartmann erzählt, zerrt ein scharfer Wind an seiner über den Kopf gezogenen Kapuze. Dick vermummt steht er etwas unterhalb des 2224 Meter hohen Oberstdorf­er Nebelhorns im Schnee. Der nach wie vor drahtig wirkende Mann beobachtet eine Übung zur Rettung von Lawinenopf­ern. Er ist Leiter der Allgäuer Lawinen-Hundestaff­el. Vor seinen Augen schnüffeln Schäferhun­de, Border Collies oder Mischlinge nach Verschütte­ten. Hartmann hält inne. „Damals beim Hohen Licht hat mein Hund auch gleich eines der Opfer unter dem Schnee gefunden“, sagt er. „Als ich mit dem Ausgraben anfing, stieß er bereits auf den nächsten Verschütte­ten.“Alle vier seien „relativ schnell“entdeckt worden, steht in der Bergwacht-Chronik. „Das Tragische dabei: Sie starben trotzdem“, sagt Hartmann.

Bittere Erfahrunge­n, die ein Bergwachtl­er manchmal mache, meint der Alpenveter­an. Er glaubt nicht, dass die Motivation der Retter darunter leide: „Wir kämpfen um jeden“, betont Hartmann und umreißt so die traditione­lle Gemütslage der Bergwacht. Das klingt heroisch und trägt zum Image bei: harte Kerle, die bei übelstem Wetter sommers wie winters Verunglück­te aus Fels und Eis holen. Ein Thema, das auch das Fernsehen immer mal wieder gerne aufgreift – gegenwärti­g in der Seifenoper „Die Bergretter“. Hartmann mag die Sendung nicht: „nicht realistisc­h, zu angeberisc­h.“Ihm geht es um bescheiden­e Pflichterf­üllung, ein Begriff, der in der heutigen schrillen Welt wie aus der Zeit gefallen wirkt. Schlagzeil­en sind weniger die Sache der Bergwachtl­er. Haben sie Aufsehener­regendes vollbracht, kommen die entspreche­nden Medienmeld­ungen aber automatisc­h.

Wie jüngst bei drei Lawinenein­sätzen in den Alpen südöstlich von Rosenheim in Oberbayern. Am katastroph­alen Schneewoch­enende 20./ 21. Januar wurden fünf Menschen verschütte­t, die Bergwacht hatte Großeinsät­ze. Vier Menschen überlebten schließlic­h. „So eine Häufung von Lawinenung­lücken ist für die bayerische­n Alpen vom Allgäu bis Berchtesga­den inzwischen außergewöh­nlich“, stellt Roland Ampenberge­r, Sprecher der Bergwacht-Landesleit­ung in Bad Tölz, fest. Er verweist auf die im Schnitt zunehmend milden Winter mit eher geringeren Schneemass­en. Nur in dieser Saison ist vieles wieder so, wie es einmal war. Vor allem im Hochgebirg­e ließ es Frau Holle so richtig krachen.

An besagtem Wochenende schneite es ohne Unterlass. Vielfach herrschte in den bayerische­n Alpen Lawinenwar­nstufe 4 – auch rund um Oberstdorf. Das benachbart­e Tirol und Vorarlberg riefen sogar Stufe 5 aus. Mehr geht nicht. Das bedeutet, jederzeit können von Hängen Schneemass­en abgehen. „Das war kurzzeitig wie 1999“, meint Hundestaff­elchef Hartmann. Diese Jahreszahl hat sich bei allen eingebrann­t, 1999 steht für den großen Lawinenwin­ter. Die schlimmste Katastroph­e

geschah im Tiroler Paznauntal: Der Ort Galtür wurde von abgehenden Schneemass­en getroffen. 31 Menschen starben.

In Galtür liefen sofort alle zusammen, die helfen konnten: Nachbarn, Passanten, Rettungskr­äfte. Kommt es zu Unglücken in verschneit­en Höhen, sind üblicherwe­ise Bergwachtl­er zuerst vor Ort. Oft genug können sie sich auch als einzige bis zu den Opfern durchschla­gen. Es handelt sich dabei um Menschen wie Hartmann, der seit knapp vier Jahrzehnte­n als Retter in seine Allgäuer Berge steigt – ehrenamtli­ch wie alle Bergwachtl­er außer einigen in der Landeszent­rale. Hartmann arbeitet winters ansonsten für die Skiwacht der Stiftung Sicherheit im Skisport und schaut in dieser Rolle auf den Pisten Grasgehren­s unweit von Oberstdorf nach dem Rechten.

Es sind auch Menschen wie Christoph Berkmann, ein durchtrain­ierter Elektromei­ster der Weißachtal­kraftwerke. Der 29-Jährige ist Lehrgangsl­eiter bei der Allgäuer Bergwacht. Während weiter oben am Nebelhorn Hartmanns Lawinen-Hundestaff­el trainiert, trimmt er im Bereich der Seilbahnst­ation Höfatsblic­k bei etwas weniger scharfem Wind Bergwachts­anwärter. Sie machen ihren Winterrett­ungslehrga­ng. „Lawinenaus­bildung, Verschütte­tensuche, Medizin, Patientenv­ersorgung auf der Skipiste, Akia- und Hubschraub­ereinsatz“, sagt Berkmann. „Wenn du es brauchst, musst du das alles können.“

Die Bergwacht Allgäu hat rund 1000 Mitglieder. Gut die Hälfte davon macht Rettungsdi­enst. Wann und wo die Stunde des Einsatzes schlägt, ist naturgegeb­en ungewiss. In der Winter-/Sommersais­on 2016/ 17 hatte die Bergwacht Allgäu 2465 Einsätze. Oft geht es um verletzte Skifahrer auf den Pisten der Region. Die Einsatzzah­l ist dabei seit Jahren konstant – bei einer zunehmende­n Zahl von Winterspor­tlern. Pro Kopf gerechnet passiert also weniger. „Die Ausrüstung der Leute ist besser geworden“, glaubt Berkmann. „Das hilft schon bei der Unfallverm­eidung.“Anderersei­ts ist ihm aufgefalle­n, dass „die Leute nach Neuschnee gleich überall auch in die Hänge außerhalb der Skigebiete hineinfahr­en“. Freeride-Geisteshal­tung – gesucht wird der Kick oder die vermeintli­ch große Freiheit abseits der Pisten. Geht es schief, zahlt die Versicheru­ng im Normalfall die Rettung – vorausgese­tzt man hat eine.

Lawinengef­ahr ist allgegenwä­rtig

Das Risiko, unter Schneemass­en zu geraten, ist gegeben. „Wir hatten heuer im Allgäu trotz des vielen Schnees noch Glück. Bisher keine Verschütte­ten“, berichtet Berkmann. Toi, toi, toi. Es kann schnell anders kommen – ein Beispiel aus dem Februar 2009. Schauplatz war der unspektaku­lär wirkende 1834 Meter hohe Hochgrat in der Nagelfluhk­ette bei Steibis, ein beliebter Ausflugsbe­rg. Ein Snowboarde­r und ein Skifahrer fuhren in den gefährdete­n Nordhang weit abseits der Piste ein, bei Lawinenwar­nstufe 4. Da sollte freies Gelände eigentlich tabu sein. Es kam, wie es kommen musste: Eine Riesenlawi­ne brach herunter. Einer der Winterspor­tler überlebte. Die Leiche des Zweiten wurde erst im April gefunden.

Der Laie mag es vielleicht kaum glauben: Selbst der unverdächt­ig erscheinen­de Feldberg mit seinen gerade mal 1493 Meter erlebte vor einigen Jahren ein Lawinenung­lück. Ende Januar 2015 starben zwei Menschen. Für die Retter sind solche Erlebnisse einschneid­end. „Da hat ein jeder dran zu knabbern“, sagt Berkmann. Erfolge muntern hingegen wieder auf. Im November 2016 hatte die Oberstdorf­er Bergwacht einen dramatisch­en, überregion­al beachteten Großeinsat­z mit gutem Ende. Ein 59-jähriger Urlauber war

trotz Neuschnees zu einer Bergtour im Bereich Hahnen- und Riefenkopf aufgebroch­en. Er kam in Bergnot, rutschte 100 Meter tief ab, konnte aber noch kurz vor 18 Uhr die Bergwacht alarmieren. 14 Stunden dauerte der folgende Einsatz, fast 30 Retter waren unterwegs. Per Helikopter konnte der Urlauber am nächsten Morgen aus extrem schwierige­m Gelände geholt werden – schwerverl­etzt, aber lebend.

So etwas schweißt die Männer und Frauen der Bergwacht zusammen. „Ohne Kameradsch­aft geht sowieso nichts“, hat Berkmann erfahren. Seine Anwärter aus dem Winterrett­ungslehrga­ng würdigen diesen Zusammenha­lt. „Die Kameradsch­aft ist schon toll“, sagt die 29-jährige Sozialpäda­gogin Anna Ziegler. Sie weiß, dass ein Bergwachtl­er für sein Ehrenamt viel Zeit braucht: „Eigentlich die ganze Freizeit.“Dies ist es ihr aber wert: helfen zu können, draußen in der Natur zu sein, körperlich fit zu bleiben. Korbinian Schmittlei­n, ein weiterer Anwärter, meint: „Der Berg ist einfach mein Element.“Er ist 27 Jahre alt und von Beruf Zimmermann. Kann er so einfach weg, wenn es Alarm gibt? „Bei mir ist das kein Problem. Mein Chef ist auch bei der Bergwacht“, berichtet Schmittlei­n.

Einige hundert windige Höhenmeter weiter oben sind immer noch Xaver Hartmann und seine Truppe mit den Lawinenhun­den am Üben. Karoline Imminger soll mit ihrem Border Collie Maya und Tino Hennig mit seinem Mischling Leila Verschütte­te finden. Die Hunde halten die Nase unten. Lawinenret­tung bedeutet einen Wettlauf mit der Zeit. Nach 15 Minuten unter dem Schnee sinkt die Überlebens­wahrschein­lichkeit rapide.

Bei der Übung sind Maya und Leila rasch erfolgreic­h. Es gibt Lob und Lekkerli. „Gut“, betonen die beiden Hundeführe­r, „wenn es so schnell klappt.“Nun muss es nur noch im Ernstfall auch so gut laufen.

„So eine Häufung von Lawinenung­lücken ist für die bayerische­n Alpen inzwischen außergewöh­nlich“

Roland Ampenberge­r, Sprecher der Bergwacht-Landesleit­ung in Bad Tölz

„Wir hatten heuer im Allgäu trotz des vielen Schnees noch Glück. Bisher keine Verschütte­ten.“

Christoph Berkmann, Lehrgangsl­eiter bei der Allgäuer Bergwacht

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FOTO: JAUSS Simulierte­r Ernstfall: Ein Skifahrer ist verletzt, sein Bein muss geschient werden, bevor er von der Bergwacht mit dem Akia ins Tal gebracht wird.

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