Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Sie nannten ihn Harry Potter
Doppel-Doppel-Olympiasieger Simon Ammann will wieder um die Medaillen mitspringen
PYEONGCHANG - 1998, 2002, 2006, 2010, 2014, 2018. Wahrscheinlich muss man sich die Jahreszahlen laut vorlesen – mehrfach am besten –, um zu begreifen, was Simon Ammann in diesen Tagen erreicht. Zum sechsten Mal nimmt der Skispringer des SSC Toggenburg an Olympischen Winterspielen teil; sowohl in Salt Lake City 2002 als auch in Vancouver 2010 gewann er Gold von beiden Schanzen. Doppel-Olympiasieger im Achtjahresturnus – was kommt da in Pyeongchang? Platz zehn in der Qualifikation für den Wettbewerb vom Hillsize-109-Meter-Bakken am heutigen Samstag kam, teils blitzsaubere Trainingssprünge inklusive. Und von Simon Ammann, 36 Jahre jung, eine selbstkritische Analyse seiner Absprungarbeit am Schanzentisch: „Hier braucht es“, befand er, „noch ein wenig mehr Energie.“
Der Mann ist akribisch, detailverliebt, ehrgeizig. Skispringer aus Leidenschaft sowieso, seit diesem Schnuppertraining des Ostschweizer Skiverbands auf der kleinen Mattenschanze Kollersweid irgendwann früh in den Neunzigern. Erinnerungen: „Du fährst los und merkst: Du kannst nicht mehr zurück. Du wirst immer schneller, fährst auf den Tisch zu und weiter, darüber hinaus. Und dann merkst du, wenn du landest: ,Hey, ich stehe!‘ Und dann, dann kommt dieses Gefühl.“
Sich nochmals neu erfunden
Es begleitet fortan, ist dabei in Nagano, beim olympischen Debüt mit 16. „Es war unfassbar. In diesem Alter kann man längst nicht alle Eindrücke mitnehmen und verarbeiten.“Das zweite Mal aber war das Große, Riesige nicht mehr neu, nicht mehr erdrückend. Wertvolle Erfahrung gab es da – und diesen 20-Jährigen mit der Brille, den sie Harry Potter tauften, als sei es Zauberei gewesen, die ihn die Hannawalds, Malyszs und Hautamaekis dieser Welt so düpieren ließ. Der bei David Letterman TV-Gast war und der staunenden US-Welt als „eines von fünf Kindern einer Bergbauernfamilie“präsentiert wurde, „das ohne Fernseher und Auto aufwuchs und melken kann“. Simon Ammanns allergische Reaktion auf Kühe war damals übrigens kein Thema.
Und wohl kaum der Grund für weniger ertragreiche Tage. 2002 war zum Rucksack geworden, von dem erst die durchwachsenen Turiner Spiele 2006 befreiten. Bei der Weltmeisterschaft zwölf Monate später brachten Titel (Großschanze) und Silber (Normalschanze) Simon Ammann wieder ganz nach oben. Dann kam Vancouver, 2010, kam das zweite Doppel-Gold. „Das zu wiederholen – einen Olympiasieg –, das ist so ein perfekter, großartiger intensiver Moment, dass ich am liebsten die Zeit angehalten hätte.“Und: „Ich möchte diese Woche extrem gern noch mal erleben, vor allem die Phase bis zur Landung respektive der ,1‘ auf der Anzeigetafel.“
Doch wieder wollte ein Tal durchschritten sein. Anzugsmodifikationen, BMI-orientierte Skilängen, Simon Ammann erfand sich – notgedrungen – noch einmal neu. Und scheiterte bei seinen fünften Spielen grandios: 23. von der Groß-, 17. von der Normalschanze. „Dass es sportlich in Sotschi überhaupt nicht lief, hat mich sehr getroffen. Ich habe im Vorfeld extrem viel investiert, auch viel im Materialbereich getestet. Das war sehr, sehr undankbar.“Und trotzdem eine Kleinigkeit gegen Bischofshofen, den bösen Sturz an Dreikönig 2015. Schwere Gehirnerschütterung, Schürfwunden im Gesicht, Prellungen – nach Analyse der Videobilder stellte Simon Ammann seine Landung um. Das rechte Bein sollte beim Telemark fortan vorne aufsetzen. Ein zäher, langwieriger Prozess.
Aber abgeschlossen. Rechtzeitig. Der dritte Rang beim Skiflug-Weltcup am Kulm Mitte Januar war erster Podestplatz seit fast drei Jahren. Die Skiflug-WM in Oberstdorf mit Position zwölf und Zakopanes WeltcupKonkurrenz (Fünfter) bestätigten danach einen Aufwärtstrend, wie ihn die Vierschanzentournee nicht unbedingt hatte erwarten lassen. Zeitweise war Simon Ammann da mit neuem Carbonschuh gesprungen, testete er diesen für den Fall der olympischen Fälle. Ein Wagnis (nicht nur wegen der Nichtqualifikation in Garmisch-Partenkirchen), bewusst eingegangen. „Ich muss etwas riskieren, wenn ich zu den Besten aufschliessen will. Das ist nach wie vor mein Ziel.“
In der Luft „ganz ich“
Dafür hat Simon Ammann in diesem Winter den Spagat Familie/Sport noch etwas flexibler gelebt, auf dass das Skispringen, Ehefrau Yana, Filius Theodore und Töchterchen Charlotte zu ihrem Recht kamen. Dafür hat er noch öfter an jenes Gefühl gedacht, das begleitet seit Kollersweids Matten. Anders vielleicht mittlerweile, mit 36, als mit zehn. Aber immer noch tragend, motivierend. „Der Sprung gibt uns schon sehr, sehr viel. In der Luft bin ich ganz ich.“Eines aber ist Stärke geblieben dieses „Ichs“. Werner Schuster, vor seiner Bundestrainer-Zeit in Schweizer Diensten, hat es erlebt: „Simon kann die mentale Energie wie kaum ein anderer Sportler auf den Punkt bündeln.“
Der Punkt heißt 10. Februar 2018. Ob mit oder ohne Carbonschuh.