Schwäbische Zeitung (Tettnang)
7000 Kilometer Fahrt für die Erinnerung
Wie in Weißenau ein Bus zur mahnenden Skulptur wurde
RAVENSBURG - Schon seit zehn Jahren steht er abfahrbereit an der Weingartshofer Straße in Weißenau. Doch transportieren kann dieser Omnibus, Baujahr 1938, nur noch eines: die Erinnerung. Denn der „Graue Bus“, den die Künstler Andreas Knitz und Horst Hoheisel in Beton gegossen und in der Mitte aufgeschnitten haben, ist ein künstlerisch wertvolles Mahnmal: Es erinnert an die 691 Patienten der ehemaligen Heilanstalt Weißenau, die in den Jahren 1940 und 1941 Opfer der sogenannten Euthanasie-Aktion wurden. In solchen grauen Bussen wurden sie während des Nationalsozialismus in die Vernichtungsanstalt Grafeneck bei Münsingen deportiert, wo sie noch am Tag ihrer Ankunft in der Gaskammer starben. Elfmal fuhren die grauen Busse von Weißenau auf die Schwäbische Alb – zurück kamen sie als Leerfahrt: Lediglich die Kleider der psychisch Kranken und Behinderten schafften den Weg zurück.
Doch wie erinnert man an solche Gräuel und schafft zugleich ein Kunstwerk, das sich zu betrachten und erfahren lohnt? Als die Stadt Ravensburg und das Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg (ZfP) 2005 ein Gutachterverfahren auslobten, wurden auch die Künstler Andreas Knitz und Horst Hoheisel zum begrenzten Wettbewerb eingeladen. Ein halbes Jahr lang hatten sie Zeit, ihren Entwurf einzureichen, der ein Budget von 100 000 Euro nicht überschreiten sollte. Fest stand zudem: Den Standort des Mahnmals im Außenbereich konnten die Künstler frei wählen. „Wir hatten, als wir die Bilder der grauen Busse sahen, uns sehr schnell entschieden, mit diesem Werkzeug der Täter an die Ermordung der Patienten aus Weißenau zu erinnern“, so Hoheisel und Knitz.
Die Idee bekam Knitz durch seine Mutter, die sich noch an die echten grauen Busse erinnern konnte, die damals durch jedes Dorf fuhren: „Die normale Bevölkerung wusste vielleicht nicht, was passiert. Aber sie wusste, dass was passiert. Jeder hat ja gesehen, dass da Busse fahren mit Menschen drin. Eine alte Frau sagte mir mal: Sie wird das Schreien im Inneren nie vergessen.“Die Busse seien daher das „stärkste Zeichen“. Weil sie nicht nur an die Opfer erinnern, sondern als ein „Werkzeug der Täter“zugleich illustrieren, wie fabrikmäßig die Täter diesen Massenmord durchführten.
Im Januar 2006 stellten alle am Wettbewerb beteiligten Künstler ihre Entwürfe vor. Eine deutliche Mehrheit sprach sich für das „Denkmal der grauen Busse“aus, das die Jury mit seinem „klaren, inhaltlichen Konzept“und dem „hohen Symbolwert durch Rückgriff auf die Form der Busse“überzeugte. Im März 2006 votierte auch der Gemeinderat Ravensburg für den Entwurf. Dieser sah nicht nur einen Bus vor, der in Originalgröße die ehemalige Einfahrt zur Heilanstalt blockierte, sondern auch einen weiteren, den Städte und Gemeinden mieten können und der zunächst auf der Strecke zwischen Weißenau und Grafeneck seinen Standort wechseln sollte. Im Januar 2007 wurden die beiden BetonHohlblocksegmente an der ehemaligen Pförtnerloge der früheren Heilanstalt aufgestellt: 75 Tonnen schwer und 2,50 Meter breit. Wer den Betonbus betritt, kann auf 8,70 Metern Länge durch das Innere schreiten und an der Innenwand ablesen, was viele Insassen des Busses einst fragten: „Wohin bringt ihr uns?“. Die Künstler setzten mit ihrem „Mahnmal der grauen Busse“nicht nur auf die Greifbarkeit der Deportation, auch die Beteiligung anderer Städte reizte sie. „Welches Dorf will den Bus haben? Wer will ihn schnell wieder loswerden? Und wann bleibt er irgendwo stehen?“– diese Fragen stellen Hoheisel und Knitz in der Publikation „Erinnern und Gedenken – das Mahnmal Weißenau und die Erinnerungskultur in Ravensburg“.
Und wo parkt er nun, der zweite graue Bus? „Derzeit steht der wandernde Teil des Denkmals mitten in Frankfurt auf dem Rathenauplatz/ Goetheplatz“, erklärt Andreas Knitz. In den vergangenen zehn Jahren hat der baugleiche Teil des Weißenauer Denkmals etwa 7000 Kilometer zurückgelegt, war an Berlins Tiergartenstraße zu sehen, in Braunschweig und Köln, Stuttgart und München, Kassel und Heilbronn sowie an vielen weiteren Orten. Die Erinnerung bleibt in Bewegung.