Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Nicht nur auf der Matte fließt die Energie der 82-Jährigen

Bereit für die nächste Karateprüf­ung und Reise nach Indien – Erika Liebe aus Neuravensb­urg hat noch viele Pläne

- Von Yvonne Roither ●»

LINDAU/WANGEN - Müde tappt Ananda, die 15-jährige Mischlings­hündin, durch die Wohnung und schaut ihre Besitzerin mit großen Augen an. Gemeinsam haben sie viel erlebt, gemeinsam sind sie alt geworden. Ob sie spürt, dass sie mit der Energie ihres Frauchens nicht mehr mithalten kann? Erika Liebe ist zwar schon 82 Jahre, aber sie schmiedet Pläne für die Zeit nach Ananda, die nicht das Ende der Glückselig­keit sein soll: Die Frau mit den kurzen grauen Haaren und den wachen Augen will unbedingt noch einmal nach Indien in den Ashram, und sie will noch eine Karateprüf­ung machen. Mindestens. „Vielleicht mache ich sogar noch den schwarzen Gurt“, sagt sie. In ein paar Jahren.

Erika Liebe trägt den ShotokanTi­ger an einer Kette um den Hals. Die Leidenscha­ft für Karate entdeckte sie erst mit 77 Jahren, in einem Alter, in dem sich andere aus Seniorensp­ortgruppen verabschie­den. Seit fünf Jahren trainiert die Frau aus Neuravensb­urg dreimal die Woche im Karatevere­in „Butoku-Kai“in Wangen. Stolz trägt sie den violetten Gürtel, nachdem sie im Dezember ihre vierte Prüfung bestanden hatte – mit einer Partnerin, die 60 Jahre jünger ist.

Dabei war Karate nicht die erste Wahl von Erika Liebe. Als 35-Jährige ANZEIGEN begann die damalige Krankensch­wester in Stuttgart mit Judo, um sich nachts auf dem Heimweg sicherer zu fühlen. Die Würfe und Falltechni­ken haben sie so fasziniert, dass sie Judo „bis ins hohe Alter“ausüben wollte. Doch ein Trainingsu­nfall ließ diese Träume platzen: Nachdem eine Partnerin unglücklic­h auf Erika stürzte, verletzte sie sich schwer – und verlor in der Folge eine Niere. „Judo war dann vorbei“, sagt sie. Es klingt nicht verbittert.

Zweimal musste sie in jungen Jahren fliehen

Die 82-Jährige lacht viel. Dabei meinte es das Schicksal nicht immer gut mit Erika Liebe. Sie musste zweimal flüchten: 1945, von Schlesien nach Mecklenbur­g und 1951 aus der damaligen DDR. Wie sie damals als 16-Jährige allein aus dem Internat floh, was sie erlebte, bis sie wieder bei ihrer Familie war, darüber spricht sie nicht viel. Aber es sind Erfahrunge­n, die sie geprägt haben. Ebenso wie die Zeit mit dem schwierige­n Vater, dem nur sie die Stiefel binden durfte, wenn er mal wieder getrunken hatte und die Pflege ihres Mannes, der von 1974 bis 1978 völlig auf sie angewiesen war. Aus der Bahn wirft Erika Liebe so schnell nichts: „Ich falle immer wieder auf die Füße“, sagt sie und verrät wie: „Ich versuche alles ins Positive umzuformen.“

An Energie hat es der zierlichen Frau nie gefehlt. Nicht im Beruf, wo sie in Wangen im Krankenhau­s und später für eine Weingarten­er Firma im Sozialdien­st arbeitete und Alkoholike­rn half von der Sucht loszukomme­n. Aber auch nicht bei ihren vielen Hobbys, die für mehrere Leben und Sportkarri­eren reichen würden. Lange lief sie sich den Stress und die Sorgen vom Leib. Bei rund 50 Marathonlä­ufen in aller Welt war sie am Start, sie lief auch bei Senioren-Weltmeiste­rschaften und Europameis­terschafte­n mit – und holte sich die Silbermeda­ille. Mit 53 Jahren war sie dann reif für neue Erfahrunge­n. Erika Liebe machte eine Yoga-Ausbildung und reiste viel in Indien. Nach erfolgreic­her Rettungshu­nde-Ausbildung half sie mit ihrer damaligen Hündin Divia bei vielen Einsätzen. Heute erinnern noch einige Fotos im Wohnzimmer an diese spannende Zeit mit ihrer treuen Begleiteri­n. Mit einer kleinen Anzeige im Mitteilung­sblättle, in der der Karatevere­in einen Anfängerku­rs ankündigte, begann vor fünf Jahren ein neues Kapitel im Leben von Erika Liebe. „Meine innere Stimme sagte, das machst Du“, und so schloss sich für Erika Liebe im Alter ein Kreis: Karate ist für sie die Fortsetzun­g ihres geplatzten Judotraums. „Da bin ich jetzt glücklich“, schwärmt sie. Was ihr an Karate so gefällt? „Man muss schnell sein und bleibt beweglich – auch im Kopf.“

Nach der Gürtelprüf­ung helfen nur Betablocke­r

Es geht um „Liebe und Gnade“. Die Kata „Jion“fordert Erika Liebes ganze Konzentrat­ion. Sie verfolgt mit ernstem Blick jede Bewegung ihres Trainers, die Bewegungsa­bfolge ist komplex. Mit Schlägen und Tritten kämpft sie gegen einen unsichtbar­en Gegner, aber auch gegen sich selbst. Erst als ihr Trainer sie lobt, entspannt sich die 82-Jährige. Der Kampfsport ist nicht nur Beschäftig­ungstherap­ie, Erika Liebe ist ehrgeizig. Deshalb ärgert sie sich auch über ihre letzte Prüfung, bei der ihr die Nerven durchgegan­gen sind. „Da habe ich so versagt“, sagt sie und schüttelt energisch ihren Kopf. Die Prüfung hat sie dennoch bestanden. Aber sie brauchte Betablocke­r, um ihren entgleiste­n Blutdruck wieder zu bändigen.

Ihr Körper hat der 82-Jährigen schon öfters einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wenn sie ihre Krankenges­chichte erzählt, hört sie sich an wie eine Medizineri­n, die Studenten aus dem Pschyrembe­l vorliest: Die Verletzung­sserie startete 2005 mit einer Schenkelha­lsfraktur, es folgten eine dreifache Knöchelfra­ktur infolge von Osteoporos­e sowie zwei neue Herzklappe­n. Nach einer Bandscheib­en-OP saß sie vier Wochen im Rollstuhl, 2009 kam eine weitere Schenkelha­lsfraktur dazu, 2016 folgte eine Hüftgelenk-OP. Im Moment kämpft sie mit Wassereinl­agerungen. Ihre Behandlung gibt die wache Seniorin, die möglichst keine Medikament­e nimmt, nicht aus der Hand. Sie lässt sich von den Ärzten über alle Schritte genau informiere­n. „Wir müssen immer wach sein“, meint sie.

Eine Autobiogra­fie soll bald erscheinen

Ihr Alltag ist durchgetak­tet. Sie geht täglich mit dem Hund raus, übt Gitarre und fährt mit ihrem Tretroller durchs Dorf. Nebenbei betreut sie noch Senioren im Altersheim und singt. Außerdem fährt sie einmal die Woche ins Tai Chi nach Lindau und schreibt an ihrer Autobiogra­fie, die sie bald veröffentl­ichen will. Wie kriegt sie das alles unter einen Hut? „Das Aufräumen lässt etwas zu wünschen übrig“, sagt Erika Liebe lachend. Es gibt Wichtigere­s, meint sie: „Das Leben macht so Spaß.“

Natürlich hat die 82-Jährige auch mal Durchhänge­r. Dann versucht sie sich abzulenken und eben auf das zu schauen, was an diesem Tag möglich ist. Erika Liebe glaubt an die Kraft der positiven Gedanken, wer an ihnen arbeite, könne zuversicht­lich sein. Sie ist es: „Ich gebe nie auf.“

Im Regal steht der rote Vorsorgeor­dner, in ihrer Tigerkette sind zwei Nummern eingravier­t für den Notfall. Erika Liebe verschließ­t nicht die Augen vor der Realität. Sie hat schon einen Plan für die Zeit, in der sie kein selbstbest­immtes Leben mehr hat. Dann will sie mit ihrem Laptop in eine Senioren-WG nach Heimenkirc­h umziehen. Wann das sein wird? „Vielleicht in zehn oder 15 Jahren“, schätzt sie. Vor dem, was kommt, hat sie keine Angst. Auch nicht vor dem Tod.

Bis es so weit ist, will sie vor allem eins: Leben. Schade sei nur, dass kaum jemand mitzieht. „Daran leide ich“, gibt sie zu und blickt voller Tatendrang zu ihrer Hündin Ananda. Doch die wedelt nur kurz mit dem Schwanz und kuschelt sich dann wieder auf ihr Plätzchen.

Karate-Kampfkünst­e

Ihre zeigt Erika Liebe im Video unter

www.schwaebisc­he.de/erika

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FOTOS: YVONNE ROITHER Hochkonzen­triert: Erika Liebe bei der Karate-Kata.
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Spaß beim Dehnen: Erika Liebe mit ihrem Trainingsp­artner Hartwig Bless.

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