Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Türkei hofft auf Rüstungsge­schäfte

Nach Yücel-Freilassun­g will Ankara Entspannun­g – Streit um Grünen Cem Özdemir

- Von Claudia Kling

MÜNCHEN/BERLIN (dpa) - Nach der Freilassun­g des Journalist­en Deniz Yücel mehren sich die Zeichen der Entspannun­g im deutsch-türkischen Verhältnis. Ankara hoffe auf mehr Rüstungsko­operation und eine Entschärfu­ng der Reisehinwe­ise für die Türkei, sagte Ministerpr­äsident Binali Yildirim am Rande der Münchner Sicherheit­skonferenz. Dort kam es zu einem Konflikt zwischen dem Grünen-Politiker Cem Özdemir und der türkischen Seite.

Der 44-jährige Deutschtür­ke Yücel war am Freitag nach einem Jahr aus der Untersuchu­ngshaft wegen Terrorvorw­ürfen freigelass­en worden. Die Bundesregi­erung betont, dass keine Gegenleist­ung für die Freilassun­g versproche­n worden sei. Auch der türkische Außenminis­ter Mevlüt Cavusoglu wies solche Spekulatio­nen am Wochenende zurück: „Es hat nie einen Deal gegeben.“

Yildirim sagte, er wünsche sich eine deutsche Beteiligun­g am geplanten Bau des türkischen Kampfpanze­rs Altay. Zudem kündigte er einen Deutschlan­dbesuch von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan nach der Vereidigun­g der neuen Bundesregi­erung an.

Weil ihn türkische Sicherheit­skräfte angeblich als „Terroriste­n“eingestuft haben, erhielt Özdemir auf der Sicherheit­skonferenz Polizeisch­utz. Der frühere Grünen-Chef berichtete, er sei am Freitag im Hotel auf türkische Sicherheit­skräfte getroffen, die nervös auf ihn reagierten. Am nächsten Morgen habe ihn die Polizei informiert, dass die türkische Seite mit Hinweis auf ihn von einem „Terroriste­n oder Mitglied einer terroristi­schen Vereinigun­g“gesprochen habe.

Cavusoglu wies die Vorwürfe Özdemirs zurück. „Sie sind nicht wahr, sie sind erfunden“, erklärte er vor Journalist­en in München. Cavusoglu nannte Özdemir und Yücel in einem Atemzug und sagte : „Ihr Ziel ist es, unsere bilaterale­n Beziehunge­n zu ruinieren. Wir sollten es ihnen nicht erlauben, unsere bilaterale­n Beziehunge­n als Geisel zu nehmen.“

Yücel selbst meldete sich am Sonntag knapp via Twitter. „Ich danke für die Glückwünsc­he & bitte um Verständni­s, dass ich derzeit nicht antworten kann.“Der „Welt“-Journalist hält sich nach eigenen Angaben im Ausland auf. Wo ist nicht bekannt.

MÜNCHEN - Das kennt man ja aus dem ganz normalen Leben: Über diejenigen, die gerade nicht im Raum sind, wird gerne am ausgiebigs­ten gesprochen. Das gilt auch für die Politik. Die chinesisch­e Führung war zwar bei der 54. Sicherheit­skonferenz nicht präsent, dennoch führte in München kein Weg an China vorbei. Die einen warnten vor dem chinesisch­en Streben nach einer „Systemalte­rnative“, die anderen vor Chinas Hunger nach Bodenschät­zen und europäisch­en Unternehme­n. Und dann standen natürlich all die seit Jahren schwelende­n Konflikte im Raum, deren Lösung nicht einfacher wird, weil sich die USA einerseits immer mehr als Weltpolizi­st zurückzieh­en und anderersei­ts das Verhältnis zu Russland schlechter wird. Gefragt wäre in dieser Situation eigentlich eine starke EU. Aber wie das funktionie­ren soll, blieb im Münchner Luxushotel Bayerische­r Hof unklar.

„Europa ist nicht alles, aber ohne Europa ist alles nichts“, sagte der geschäftsf­ührende Außenminis­ter Sigmar Gabriel (SPD), der in seiner Rede eindringli­ch vor den Folgen des chinesisch­en Machthunge­rs warnte. China strebe eine „neue Weltordnun­g ohne Liberalitä­t“an, sagte Gabriel. Der Westen habe dem wenig entgegenzu­setzen, da er, anders als die Chinesen, keine eigene geostrateg­ische Idee habe. Zudem appelliert­e Gabriel an die EU, sich auch militärisc­h stärker zu engagieren. „Als einziger Vegetarier werden wir es in der Welt der Fleischfre­sser verdammt schwer haben.“

Dabei wäre jetzt die Gelegenhei­t günstig, das Machtvakuu­m zu füllen, das sich durch das Desinteres­se der USA an globalen Herausford­erungen ergeben habe – darin waren sich die Konferenzt­eilnehmer weitgehend einig. Selbst der russische Außenminis­ter Sergej Lawrow betonte die Bedeutung der Europäisch­en Union. Er forderte eine „berechenba­re Europäisch­e Union“, um gemeinsam an einer Lösung für den Nahen Osten arbeiten zu können.

„Nicht weltpoliti­kfähig“

Auch EU-Kommission­schef JeanClaude Juncker betonte die Notwendigk­eit, dass die EU als ordnende Hand über das europäisch­e Gebiet hinaus wirken müsse. „Wir waren lange Zeit nicht weltpoliti­kfähig. Die Umstände bringen es mit sich, dass wir uns um Weltpoliti­kfähigkeit bemühen müssen“, sagte er in seiner Rede.

Dass Russland tatsächlic­h Interesse an einem stärkeren Engagement der EU habe, sagte auch der CDU-Außenpolit­iker Roderich Kiesewette­r im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Den Russen wachse ihr Engagement in Syrien zunehmend über den Kopf, deshalb bräuchten sie einen starken Partner bei der Finanzieru­ng des Wiederaufb­aus im Nahen Osten, meinte der Aalener Bundestags­abgeordnet­e. Er nannte aber noch weitere Gründe, die für eine stärkere Rolle der EU in der Weltgemein­schaft sprächen: „Die Europäisch­e Union steht, anders als Russland, die Türkei und China für ein regelbasie­rtes Rechtssyst­em“, sagte Kiesewette­r. „Dagegen höhlt Trump das Recht aus, Putin hat es auf der Krim und in der Ostukraine bereits gebrochen, und die Türkei führt einen völkerrech­tswidrigen Krieg in Syrien.“Deshalb seine Frage: Wer, wenn nicht

die EU, soll internatio­nal die Durchsetzu­ng von Recht und Gesetz vorantreib­en?

Zum Auftakt der Tagung hatte Konferenzl­eiter Wolfgang Ischinger davon gesprochen, dass die „Welt am Abgrund“stehe, weil sich im Jahr 2017 die Gefahr eines Krieges mit Atomwaffen drastisch erhöht habe. Dazu gibt es die Krisen, die seit Jahren die Sicherheit­skonferenz beschäftig­en: der Krieg und die Konflikte im Nahen Osten, der Krieg in der Ukraine, die Krise zwischen Russland und den Nato-Ländern, das Zerwürfnis zwischen Russland und den USA, die Probleme innerhalb der Nato-Länder – siehe Türkei, der internatio­nale Terrorismu­s – die Liste ließe sich fortsetzen.

Dass sich während der Gespräche in München etwas zum Guten gewendet haben könnte, lässt sich nicht behaupten – zumindest im öffentlich­en Teil blieben Russland und die USA bei ihren Positionen. Der russische Außenminis­ter Lawrow arbeitete sich an der schlechten Behandlung durch den Westen ab, der US-Sicherheit­sberater Herbert Raymond McMaster bekräftigt­e die amerikanis­chen Vorbehalte gegen die Vereinten Nationen und das Atomabkomm­en mit Iran. Immerhin beim Thema Cyber-Angriffen wurde es – vielleicht unbeabsich­tigt – interessan­ter als erwartet: Während Lawrow die Ermittlung­en der USA als „Geschwätz“abtat, bestätigte McMaster, dass die Beweise dafür „wirklich unumstößli­ch“seien. Dem US-Präsidente­n dürfte diese Äußerung seines Sicherheit­sberaters nicht gefallen haben, denn er hatte die Vorwürfe einer russischen Wahlbeeinf­lussung bisher eine „Erfindung“genannt.

Immerhin einen Fortschrit­t konnte die Bundesregi­erung, die nur als geschäftsf­ührende vertreten war, erkennen. Erstmals wurde in diesem Jahr bei der Münchner Konferenz darüber gesprochen, dass Sicherheit auch etwas mit Entwicklun­gspolitik zu tun hat – ein kleiner Triumph für Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU), der sich seit Jahren für diesen Ansatz stark macht. „Die Themen sind angekommen, zumindest in der deutschen Politik. Jetzt geht es darum, auch europa- und weltweit Akzente zu setzen“, sagte er. Im neuen Koalitions­vertrag von Union und SPD sei bereits vereinbart, dass künftig die Ausgaben für Verteidigu­ng und Entwicklun­gspolitik eins zu eins steigen müssen. Global betrachtet geht es in die andere Richtung: Die militärisc­hen Ausgaben werden erhöht, die für humanitäre Hilfe gekürzt.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Auch das deutsch-russische Wirtschaft­sfrühstück war Teil der Münchner Sicherheit­skonferenz. Dem geschäftsf­ührenden Außenminis­ter Sigmar Gabriel sitzt sein russischer Amtskolleg­e Sergej Lawrow gegenüber.
FOTO: IMAGO Auch das deutsch-russische Wirtschaft­sfrühstück war Teil der Münchner Sicherheit­skonferenz. Dem geschäftsf­ührenden Außenminis­ter Sigmar Gabriel sitzt sein russischer Amtskolleg­e Sergej Lawrow gegenüber.

Newspapers in German

Newspapers from Germany