Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Das Leben ist zurück
Bashar Kasso hat seine Familie aus Syrien nachgeholt – Um den Familiennachzug gibt es viel Streit
RAVENSBURG - So sieht es aus, wenn ein neues Leben ohne Angst beginnt: wie in einem Möbelhaus. Die Regalfächer im Wohnzimmer sind so gut wie leer. Nur einige Bücher, Krimskrams und Schallplatten füllen den quadratischen Raum aus. Der Esstisch, die Fernsehkommode, die Couch: Sie sind noch nicht oft benutzt worden.
„Ich habe mein Leben zurück“, sagt der Syrer Bashar Kasso. Damit meint der 55-Jährige seine Frau Randa (44) und die gemeinsamen Töchter Jude (8), Dania (15) und Sarah (17). Am 24. Januar ist der Flieger aus Istanbul mit der Familie am Flughafen in München gelandet. Zwei Jahre und zehn Monate hatten sie sich bis dahin nicht gesehen, zwischen ihnen lagen 1700 Kilometer. So lange hat es gedauert, bis Frau und Kinder im Rahmen des Familiennachzugs ihre Visa erhalten haben. Nun kann die Familie vereint in Ravensburg leben.
In Deutschland wird viel geredet über Menschen wie die Familie Kasso, und es wird noch mehr darüber gestritten. Befürworter des Familiennachzugs argumentieren, als Familie sei es in der Ferne einfacher, sich heimisch zu fühlen. Gegner fürchten sich vor noch mehr Flüchtlingen, für die es in den Städten und Gemeinden nicht genügend Kitaplätze, Wohnungen und Jobs gebe.
Festgefahrene Diskussionen
Die Diskussion ist festgefahren, sowohl in den Kommunen, als auch im politischen Berlin. Fast wären die Sondierungsgespräche zwischen SPD und Union Anfang des Jahres daran gescheitert. Beide GroKoPartner mussten eine neue Regelung finden, die Zeit drängte. Der Familiennachzug ist im März 2016 ausgesetzt worden, diese Aussetzung wäre im März dieses Jahres ausgelaufen. Die Suche nach neuen Rahmenbedingungen fiel in die Zeit der Sondierungen, in der die Beteiligten für gewöhnlich hartnäckig auf ihren Positionen beharren, bevor sie zu einem Kompromiss bereit sind.
Die SPD wollte den Familiennachzug, die Union hätte ihn gerne weiter ausgesetzt gesehen. Geeinigt haben sich die GroKo-Partner auf eine weitere Aussetzung bis August. Dann können maximal 1000 Familienangehörige von Flüchtlingen mit sogenanntem subsidiärem – also eingeschränktem – Schutzstatus pro Monat nach Deutschland kommen. Zusätzlich können einige „Härtefälle“ihre Verwandten nachholen, beispielsweise Minderjährige ihre Eltern. Faktisch gab es diese Regelung schon vorher, praktisch spielt sie keine Rolle.
Unabhängig, ob dadurch junge oder alte Flüchtlinge kommen: Benötigt werden freie Plätze in den Kitas und Schulen, Wohnungen, die groß genug für Familien sind, und Arbeit. Die kommunalen Spitzenverbände im Südwesten kommen in diesem Punkt zu ganz unterschiedlichen Einschätzungen. Der Familiennachzug, so sagt Kristina Fabijancic-Müller, könnte zum jetzigen Zeitpunkt schwierig sein. Fabijancic-Müller ist Sprecherin des baden-württembergischen Gemeindetags, dem 1062 Kommunen angehören, vom 100-Seelen-Dorf bis zur Stadt mit 59 000 Einwohnern. Dort sei die Eingliederung der Menschen, die in den Jahren 2015 und 2016 nach Deutschland gekommen sind, noch nicht abgeschlossen. Man müsse erst mal für diese Perspektiven schaffen, „sonst wird die Integration nicht gelingen“. Daher sei der Gemeindetag „für eine Begrenzung des Familiennachzugs, bestenfalls für eine Aussetzung“.
Zwar verstehe man „in der Theorie“das Argument, dass „Familie förderlich für die Integration ist“. Für Kommunen von der Alb bis zum Bodensee wiegen andere Punkte schwerer: „Wir brauchen Sozialwohnungen, Kita- und Arbeitsplätze“, so Fabijancic-Müller weiter.
Benjamin Lachat, Integrationsdezernent beim baden-württembergischen Städtetag, glaubt zwar auch, dass es Schwierigkeiten geben könnte, „im Bereich der frühkindlichen Bildung bedarfsgerecht schnell Angebote zu schaffen“. Eine Überforderung der Städte und Gemeinden sieht er aber nicht. Diese Herausforderung des Familiennachzugs „dürfte zu meistern sein“, sagt Lachat. „Was wir vermeiden müssen, sind Diskussionen darüber, dass Schwimmbäder wegen des Familiennachzugs geschlossen werden müssen.“Deshalb fordert er Bund, Länder und Kommunen auf, gemeinsam nach Lösungen zu suchen und er bezweifelt nicht, dass es diese geben wird. Es sei gerade die Stärke der Kommunen gewesen, in der Flüchtlingskrise „immer wieder pragmatische Lösungen zu finden“.
Optimismus auf der Ostalb
Vielleicht ist dies auch der Grund, warum man im Städtchen Heubach im Ostalbkreis der Einigung zum Familiennachzug ab August gelassen entgegen sieht. Rund 10 000 Einwohner leben in der Kleinstadt zwischen Aalen und Schwäbisch Gmünd – darunter auch einige Flüchtlinge. Bürgermeister Heubachs ist Frederick Brütting. Er ist zwar SPD-Mitglied, aber als Verwaltungschef auch verantwortlich für Bildung, Wohnungen und Arbeit. Und er findet: Der Kompromiss zwischen Union und Sozialdemokraten ist gut. Dass Kitas und Schulen aus allen Nähten platzen und der Wohnungsmarkt kollabiert, sieht Brütting nicht. Aus Sicht eines Bürgermeisters sei es gut, „dass man den Familiennachzug zeitlich staffelt, um Integrationsangebote, Sprachkurse und Wohnraum schaffen zu können“, sagt er. Die Gruppe derer, die ihre Familie nachholen dürfen, sei sowieso überschaubar und insgesamt 12 000 Menschen pro Jahr „gar keine schlechte Größe“.
Brütting selbst hat Kontakt zu einem Flüchtling, der seine Familie „seit langer Zeit nachholen möchte“. Das würde ihm auch gut tun, meint Brütting, aber bislang scheiterte es „leider“an einfachen Deutschkenntnissen – eine Grundvoraussetzung für die Einreiseerlaubnis.
Bashar Kasso spricht die Sprache seiner neuen Heimat gut, auch seine Familie lernt derzeit fleißig. Ihre gemeinsame Flucht aus der Hauptstadt Damaskus begann im Januar 2014, als in Syrien vielerorts die Bomben fielen und Bekannte in den Kerkern der Regierung verschwanden. Der Grafikdesigner Kasso floh zunächst alleine nach Istanbul, die Familie folgte sieben Monate später. Dort lebten sie gemeinsam, bis der Vater im März 2015 erneut allein aufbrach – nach Deutschland. Eine gemeinsame Flucht mit Frau und jungen Töchtern über die Balkanroute sei zu gefährlich gewesen, erklärt Kasso die Tatsache, dass er sich ohne sie auf den Weg machte. Aber er hatte immer das Ziel vor Augen, sie auf sicherem Wege nachzuholen.
Dafür musste er zuerst klagen. Denn zunächst bekam Bashar Kasso lediglich den subsidiären Schutzstatus zugesprochen. Vor Gericht erkämpfte er sich jedoch den vollständigen Asylstatus. Diesen erhalten Asylsuchende nach Artikel 16a des Grundgesetzes oder gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention nur, wenn ihnen im Heimatland eine „Verfolgung von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren“aufgrund ihrer Nationalität, politischen Überzeugung, oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe droht. Viele Syrer müssen fürchten, dass sie schon durch ihre Flucht als Dissidenten gelten und sie nach ihrer Rückkehr Repressalien durch die syrische Regierung erwarten. Ein Bürgerkrieg allein, wie jener in Syrien, ist nicht zwingend ein Grund für einen uneingeschränkten Schutzstatus.
Dieser ist aber für den Familiennachzug notwendig. Daher konnte Bashar Kasso erst Ende 2017 den Antrag für seine Familie stellen, der schließlich bewilligt wurde.
Keine Prognosen für 2018
Die Visa für Frau und Töchter der Familie Kasso sind vier von 118 000 Einreisegenehmigungen, die das Auswärtige Amt im vergangenen Jahr erteilt hat. 54 000 davon gingen an „Nachziehende aus den Hauptherkunftsländern der in Deutschland lebenden Flüchtlinge, Syrien, Irak, Afghanistan, Iran, Eritrea und Jemen“, wie es von der Behörde heißt. Prognosen für 2018 wolle man keine abgeben. Das bietet auch Raum für viel Spekulationen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sprach nebulös von einer „gewaltigen Zahl“an Menschen, CSUPolitikerin Ilse Aigner spekulierte gar mit bis zu sieben Millionen.
Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung (IAB), einer Dienststelle der Bundesagentur für Arbeit, geht von deutlich geringeren Zahlen aus. Darin heißt es, auf jeden der 600 000 in Deutschland lebenden, volljährigen Geflüchteten kommen im Schnitt 0,28 minderjährige Kinder und Ehepartner – selbst wenn man die Familienmitglieder jener Menschen dazuzählen würde, die einen subsidiären Schutzstatus haben und für die der Familiennachzug nicht ohne Weiteres möglich ist.
Kritik vom Flüchtlingsrat
Für den Flüchtlingsrat Baden-Württemberg gehören Familien, unabhängig vom Aufenthaltstitel ihrer Mitglieder, zusammen – vor allem, wenn der eine Teil in einem Kriegsgebiet lebt. In der Debatte um überforderte Städte und Gemeinden zeigt der Stuttgarter Büroleiter Seán McGinley zwar „Verständnis dafür, dass die Kommunen Geldnot haben“. Die Frage sei aber, „ob es das rechtfertigt, dass Menschen in einem Kriegsgebiet oder auf dem Mittelmeer sterben“. Die Familienbande, das zeigt seine Erfahrung, sind ohnehin stärker als Kontingente. Einige Angehörige machten sich – trotz abgelehntem Antrag für den Familiennachzug – auf den Weg nach Deutschland. McGinley selbst kenne einen Mann aus Syrien, dessen Familie auf dem Weg zum Vater und Ehemann verunglückt sei. Mit der „neuen schlechten Regelung“hätten Union und SPD dem „Druck von Rechtsaußen nachgegeben“, sagt McGinley über das Gesetz. Er sieht darin gar einen Verstoß gegen das im Grundgesetz verbriefte Recht, wonach „Ehe und Familie unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung“stehen.
Und so zu tun, als läge die „Verkümmerung der Infrastrukturen“nur an den Flüchtlingen, sei falsch. Zu wenig „Sozialarbeiter, Lehrer und Wohnungen“habe es schon vor der Flüchtlingskrise gegeben, betont McGinley.
Die Familie Kasso jedenfalls hat mithilfe der Caritas eine Wohnung gefunden, groß genug für eine fünfköpfige Familie. Auch das ist eine weitere Bedingung für den Familiennachzug. In dieser Wohnung wollen sie sich als Familie einrichten und ein neues Leben aufbauen, vorerst für die kommenden drei Jahre. Diese Aufenthaltsdauer sieht der vollständige Schutzstatus vor. Die Sehnsucht nach Syrien bleibt. „Kein Land ist besser als das Heimatland“, sagt Kasso. „Aber wir haben unsere Heimat für eine lange Zeit verloren.“