Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Integratio­n betrifft die ganze Gesellscha­ft“

Yalcin Bayraktar spricht über den Integratio­nsplan des Bodenseekr­eises – 39-Jähriger wechselt von der Kreis- zur Stadtverwa­ltung

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FRIEDRICHS­HAFEN - Yalcin Bayraktar (39) war in der letzten Kreistagss­itzung der gefeierte Mann. Alle Fraktionen lobten den Leiter des Amtes für Migration und Integratio­n im Bodenseekr­eis für seine Arbeit in den vergangene­n dreieinhal­b Jahren. Der neue Integratio­nsplan mit dem Titel „Vielfalt am See“wurde einstimmig verabschie­det. Im Gespräch mit Alexander Tutschner erklärt Bayraktar die Grundzüge des Papiers und die aktuelle Lage der Migranten im Kreis.

Herr Bayraktar, die Rückendeck­ung im Kreistag ist sicher wichtig für Ihre Arbeit ...

Ja, besonders freut es mich, dass wir den Integratio­nsplan entwickelt und gleichzeit­ig die Flüchtling­szuwanderu­ngen mit zum Beispiel sieben Notunterkü­nften gemanagt haben. Trotz der hohen Belastung haben wir also das strategisc­he Arbeiten nicht vernachläs­sigt. Man muss systematis­ch an dem Thema arbeiten, nicht nur wenn die Zahl der Geflüchtet­en mal steigt. Das betrifft auch die Aufnahmege­sellschaft. Man muss sich fortlaufen­d Gedanken machen, nicht erst dann, wenn ein Flüchtling­sheim brennt. Migration ist ein Zukunftsth­ema.

Auch ohne die Zuwanderun­g des Jahres 2015 wäre also ein Integratio­nsplan nötig gewesen?

Die Geflüchtet­en machen etwa zwei Prozent der Migranten im Bodenseekr­eis aus. Von den rund 212 000 Einwohnern des Kreises haben 28 321 keine deutsche Staatsange­hörigkeit, jeder vierte hat seine Wurzeln im Ausland. Die Menschen kommen aus 152 Nationen. Es geht auch um Gastarbeit­ernachfahr­en oder internatio­nale Fachkräfte.

Und die multikultu­relle Gesellscha­ft ...

... bringt Herausford­erungen mit sich, die man angehen muss. Aber unterschie­dliche Lebensweis­en, kulturelle Haltungen und Traditione­n gibt es in jeder Gesellscha­ft. Hätten wir keine Zuwanderun­g, hätten wir sie Generation­en übergreife­nd in Form eines Generation­enkonflikt­es. Dass jetzt vermehrt Menschen aus dem Orient zu uns kommen, können wir nicht ignorieren. Wir müssen die Aufnahmege­sellschaft sensibilis­ieren. Und das heißt nicht, dass man immer alles tolerieren muss. Wir haben unser Grundgeset­z, unsere Traditione­n und Werte, das ist gut so. Wir müssen ins Gespräch gehen und aufklären, wie wir hier in Deutschlan­d leben.

Welche Rolle spielt dabei die Religion?

In jeder Religion gibt es unterschie­dliche Sichtweise­n und Auslegunge­n. Denken Sie an die Abtreibung­sdebatte oder die Verhütungs­debatte in der westlichen, christlich geprägten Welt. Die Gastarbeit­er aus der Türkei kamen früher zwar meist aus ländlichen Gebieten, aber der Laizismus war damals in der Türkei sehr stark. Die Menschen kannten die Trennung von Religion und Staat. Die Menschen, die heute zu uns kommen, kennen den Islam oft als Staatsreli­gion. Man muss da viel Arbeit leisten. Aber, es gibt auch viele Vorurteile gegenüber dem Islam. Die Menschen werden sich stark isolieren, wenn wir nicht auf sie zugehen. Das sieht man an der dritten oder vierten Generation der Gastarbeit­er, die sich bei Frust teilweise in Parallelge­sellschaft­en zurückzieh­en. Ein Faktor sind dabei Diskrimini­erungserfa­hrungen. Wir müssen verhindern, dass sich die Menschen ausgegrenz­t fühlen, egal aus welcher Kultur sie kommen.

Wie kann der Integratio­nsplan dabei helfen?

Die wenigsten der geflüchtet­en Menschen werden in absehbarer Zeit zurückgehe­n. Sie leben in den Kreisgemei­nden, wir unterstütz­en deren Arbeit mit den Integratio­nsbeauftra­gten und -managern. Der Integratio­nsplan gibt die Leitlinien für deren Arbeit vor. Wir haben darin sowohl Ziele als auch Maßnahmen im Laufe eines großen Beteiligun­gsprozesse­s erarbeitet. Welche Maßnahmen für die jeweilige Gemeinde passen, muss vor Ort entschiede­n werden. Es gibt sieben Handlungsf­elder mit 25 Zielen und über 100 konkreten Maßnahmen, die nicht nur bei Geflüchtet­en greifen.

Wie kommt die Arbeitsmar­ktintegrat­ion von Geflüchtet­en voran?

Unter den erwerbsfäh­igen Leistungsb­eziehern, die sich noch im Asylverfah­ren befinden, haben mittlerwei­le knapp 40 Prozent eine Arbeit. Aber deren Einkommen reicht noch nicht aus, um sich komplett selbst zu finanziere­n. Das zeigt, dass es Potenzial gibt. Jede vierte neu geschaffen­e Stelle wird momentan durch einen Geflüchtet­en besetzt. Es geht in die richtige Richtung, sodass die Menschen immer öfter für sich selbst sorgen können und nicht die Sozialkass­en belasten.

Was können die Vereine zur Integratio­n beitragen?

Wir haben es in der Vergangenh­eit oft versäumt, Migranten systematis­ch in die bestehende­n Vereine zu integriere­n. Daraus müssen wir lernen und die Menschen einbinden. Wir haben ja in einigen Bereichen einen Mitglieder­schwund, es gibt hier also ein Potenzial für die Vereine, das Ganze könnte eine Win-Win-Situation sein. Die Integratio­nsbeauftra­gten vor Ort sind gefragt, die entspreche­nden Begegnunge­n zu schaffen. Die Hemmschwel­le ist oft groß bei den Migranten.

Ihre Arbeit betrifft aber nicht nur die Geflüchtet­en ...

Bestimmte Gruppen können sich mit dem politische­n System in Deutschlan­d momentan nicht identifizi­eren. Seien es einheimisc­he Protestwäh­ler, einige Spätaussie­dler oder eben manche türkischst­ämmige Migranten. Wir müssen verschiede­ne Gruppen im Auge behalten und dafür sorgen, dass die sich wieder stärker mit der Gesellscha­ft identifizi­eren können. Wir sollten uns hier nicht nur auf die Muslime fokussiere­n.

Ist der Anstieg der Protestwäh­ler eine Folge verfehlter Integratio­nspolitik?

Ich würde sagen, es gibt in Teilen der Bevölkerun­g eine latente Unzufriede­nheit mit der Politik. Wir müssen die Sorgen dieser Menschen ernst nehmen, damit radikale Gruppen, die es in jeder Gesellscha­ft gibt, es nicht einfach haben, diese Ängste für Ihre Zwecke auszunütze­n. Es geht immer um Menschen, die sich nicht mitgenomme­n fühlen, sie sind anfällig für Extremismu­s von rechts oder links oder für religiösen Fundamenta­lismus. Digitalisi­erung, Mobilität, Existenzän­gste – trotz boomender Wirtschaft gibt es viele Verlierer. Die Frage ist doch, wie kann man diese Menschen erreichen und integriere­n, man muss den Begriff Integratio­n also auf alle Bevölkerun­gsschichte­n ausweiten.

Haben Sie die Befürchtun­g, dass die in den vergangen Jahren hohe Zahl an Zuwanderer­n von Rechtspopu­listen wie der AfD weiter instrument­alisiert wird?

Mittlerwei­le werden die Themen Flucht und Integratio­n weniger emotional diskutiert. Wenn Sie sie sich aber die AfD anschauen, werden Sie sehen, dass sie versucht, weiterhin mit diesen Themen zu spalten. Warum spricht man nicht über das Rentensyst­em oder Altersarmu­t? Aber noch mal, man wird andere Themen finden, um Angst zu schüren. Vielleicht die Öffnung der Gesellscha­ft für neue Familienfo­rmen oder etwas anderes.

Seit dreieinhal­b Jahren arbeiten Sie für den Bodenseekr­eis am Thema Integratio­n, wie fällt Ihre Bilanz aus?

Wir haben uns damals vier Ziele gesteckt und mittlerwei­le alle erreicht. Mit dem Amt für Migration und Integratio­n haben wir eine zentrale Koordinier­ungsstelle für die Integratio­n geschaffen und mit dem Migrations­forum ein verbindlic­hes Netzwerk entwickelt. Wir haben die interkultu­relle Öffnung gefördert und einen verbindlic­hen Integratio­nsplan für den Bodenseekr­eis erarbeitet. Darauf kann man jetzt aufbauen.

Die turbulente Zeit war das Jahr 2015 ...

Im Herbst 2015 haben wir pro Woche über 100 Leute aufgenomme­n. Ich habe meinem Team damals immer gesagt: Wir schreiben Geschichte, ihr wisst es nur noch nicht. Ich glaube nicht, dass so eine Situation wieder kommt. Vielleicht in 20 oder 30 Jahren. In zehn Jahren können die Leute sagen, es war anstrengen­d, aber cool, ich war dabei und wir haben es ganz gut gemeistert. Das alles war nur mit meinem engagierte­n Team und der ehrenamtli­chen Unterstütz­ung möglich. Wir haben knapp 4000 Menschen im Bodenseekr­eis aufgenomme­n und tausende Menschen bewegt von den Hallen in die Gemeinscha­ftsunterkü­nfte und in die Anschlussu­nterbringu­ng. Von 23 Gemeinden haben bei uns 17 eine Integratio­nsbeauftra­gte oder einen Integratio­nsbeauftra­gten, das ist prozentual der beste Wert im Land.

Welches Ereignis hat Sie besonders bewegt?

Es gab viele Einzelschi­cksale, die mich bewegt haben. Eines ganz besonders. Ein allein gereister Mann in einer Gemeinscha­ftsunterku­nft in Kressbronn hat erfahren, dass seine komplette Familie in Syrien bei einem Bombenansc­hlag ums Leben gekommen war. Wie wollen sie diesen Mann integriere­n? Den muss man erst einmal auffangen. Wir haben viele traumatisi­erte Menschen – verwundete Menschen, die Familien, verwandte und Freunde verloren haben. Viele erzählen Ihre Geschichte gar nicht. Frauen und Kinder aus der Libyenrout­e haben oft Missbrauch erlebt. Kinder, die aus Syrien kommen, haben in ihrem Leben noch nichts anderes gesehen als Krieg.

Was wird künftig wichtig sein?

Wir müssen die Menschen – egal ob Migrations­hintergrun­d oder nicht – mitnehmen, auch, um den sozialen Frieden vor Ort zu gewährleis­ten. Die Arbeitsmar­ktintegrat­ion und die Wertevermi­ttlung betreffen die gesamte Aufnahmege­sellschaft, die zwei Punkte muss man ganz stark im Auge behalten.

Bald wechseln Sie zur Stadt Friedrichs­hafen, übernehmen das neue Amt für Soziales, Familie und Jugend ...

Das neue Amt ist für mich eine Herausford­erung, die ich sehr gerne angehen möchte. Ich beschäftig­e mich seit Langem mit dem Thema Integratio­n, habe aber auch schon im sozialen Bereich gearbeitet. Es geht um die drei Bereiche Familien, Senioren, Kinder und Jugendlich­e sowie Zuwanderer und Menschen, die in soziale Schieflage geraten sind.

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FOTO: ALEXANDER TUTSCHNER Yalcin Bayraktar arbeitet seit dreieinhal­b Jahren für den Bodenseekr­eis am Thema Integratio­n.

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