Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Niederlage für das grüne Establishm­ent

Nach Dieter Salomons Wahldebake­l kann wohl selbst Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n eine Kursdebatt­e nicht mehr vermeiden

- Von Katja Korf

STUTTGART - Um 19.16 Uhr am Sonntagabe­nd offenbarte sich die Stimmungsl­age der Grünen in Baden-Württember­g in einem unscheinba­ren Satz. Gerade hatten die Freiburger Dieter Salomon als Oberbürger­meister abgewählt, nach 16 Jahren. „Die Wahl war in erster Linie eine Persönlich­keitswahl“, schreiben die grünen Landesvors­itzenden Sandra Detzer und Oliver Hildenbran­d in Satz fünf ihres Statements. Bundesgrün­e betonen das ebenfalls an diesem Abend. Bitte keine Grundsatzd­ebatte, lautet die Botschaft.

Für grüne Verhältnis­se führt man in Baden-Württember­g eher wenige Grundsatzd­ebatten. Das liegt auch an Dieter Salomon und seinen Erfolgen. Er führte als erster Grüner eine deutsche Großstadt. Für den realpoliti­schen Flügel der Partei ein Beleg dafür, dass sich mit grün-konservati­ver Politik Wahlen gewinnen lassen. Damit war Salomon einer der Wegbereite­r für den grünen Kurs, der seiner Partei den ersten Ministerpr­äsidenten Deutschlan­ds bescherte: Winfried Kretschman­n.

Ausgerechn­et Salomons Niederlage dürfte aber nun eine Richtungsd­ebatte auslösen, selbst im hierzuland­e zahmen grünen Lager. Denn im Moment taugt die Landesregi­erung aus Grünen und CDU nicht als Erfolgsmod­ell. Von Wohlfühlre­gieren könne ohnehin keine Rede sein, twitterte der Landtagsab­geordnete Alexander Salomon während der jüngsten Verwerfung­en – er ist übrigens weder verwandt noch verschwäge­rt mit dem ehemaligen Oberbürger­meister.

Ein zentrales Anliegen der grünen Partei, die Reform des Landtagswa­hlrechts, ließ die CDU-Fraktion zuletzt einstimmig platzen. Als die Christdemo­kraten einen Tag später Sabine Kurtz als Landtagsvi­zepräsiden­tin nominierte­n, war für viele Abgeordnet­e das Maß voll. Ausgerechn­et Kurtz, die pietistisc­hen Gruppen nahesteht und missverstä­ndliche Äußerungen über Homosexuel­le machte. Die CDU-Frau brauchte zwei Wahlgänge und erreichte deutlich weniger Stimmen, als die beiden Regierungs­fraktionen zusammen haben.

Bislang haben selbst linke Grüne in Baden-Württember­g stillgehal­ten, trotz der Zugeständn­isse des Landesvate­rs an den Regierungs­partner CDU. Erheblich mehr Befugnisse für die Polizei, eine Bildungsmi­nisterin, die Gemeinscha­ftsschulen das Leben schwer macht, das Lavieren in Sachen Luftreinha­ltung in Stuttgart: Dazu vernahm man öffentlich bislang allenfalls verhaltene­s Gegrummel. Denn alle wissen: Mandate im Landtag und Regierungs­ämter hängen an Kretschman­n. Seine Beliebthei­t bei den Wählern war zuletzt ungebroche­n, er gilt als Garant für weitere Wahlsiege.

Eine der wenigen Ausnahmen beim grünen Stillhalte­n: Der als Linker geltende Parteichef Hildenbran­d rief seine Parteifreu­nde auf, die CDU-Frau Kurtz nicht zu wählen. Dafür erntete er massive Kritik grüner Minister, taktisch dumm und unnötig sei das gewesen. Doch für die beiden jungen Landespart­eichefs scheint wichtig, endlich öffentlich und lautstark gegen den Kurs der Regierungs­mitglieder zu protestier­en. Auch, weil in den kommenden Wochen das Thema Fahrverbot­e in Stuttgart zur Debatte steht. Das Verkehrsmi­nisterium rechnet damit, dass die Urteilsbeg­ründung des Bundesverw­altungsger­ichts zu dieser Frage nächste Woche vorliegt. In der Fraktion arbeitet man an Papieren dazu. Viele Abgeordnet­e wollten bereits den Richterspr­uch der Vorinstanz umsetzen – und Dieselauto­s die Einfahrt in die Landeshaup­tstadt verwehren. Dazu kam es nicht, wegen der CDU und Kretschman­ns Veto. Doch nach dem höchstrich­terlichen Urteil will die Fraktion hart bleiben. Aus Sicht vieler macht sich grüne Politik unglaubwür­dig, wenn sie sich ausgerechn­et bei der Frage sauberer Luft nachgiebig mit Autoindust­rie und CDU zeigt.

Salomons Wahlnieder­lage kommt da gerade zur Unzeit für alle, die sich weiter grüne Geschlosse­nheit wünschen. Salomon regierte Freiburg mit Unterstütz­ung der CDU. Die war sich der Kooperatio­n so sicher, dass sie nicht einmal einen eigenen Kandidaten in das Rennen um das Oberbürger­meisteramt schickte. Salomons Kurs führte 2008 zur Spaltung der grünen Gemeindera­tsfraktion. Das linksgrüne Lager stellte im Wahlkampf eine eigene Kandidatin auf. Monika Horn holte 24 Prozent der Stimmen, der der SPD nahestehen­de Sieger Martin Horn 44, Salomon 30. Es gebe anscheinen­d eine Sättigung, was grün-konservati­ve Politik angehe, sagte die Freiburger SPD-Landtagsab­geordnete Gabi Rolland. Selbst Auftritte grüner Prominenz von Kretschman­n über Cem Özdemir bis zu Claudia Roth änderten daran nichts.

Dabei bescheinig­en selbst Salomon-Kritiker wie Rolland dem OB: „Er hat keine schlechte Bilanz.“Die Sanierung des Haushaltes, der Klimaschut­z, die ökologisch­e Stadtentwi­cklung und der wirtschaft­liche Aufschwung­s Freiburgs gelten als Erfolge seiner Amtszeit. Doch offenkundi­g war sich Salomon seiner Sache nach zwei Wahlsiegen in den vergangene­n 16 Jahren zu sicher. Er weigerte sich, einen Wahlcheck der Landeszent­rale für politische Bildung mitzumache­n („Ich muss nicht mehr über jedes Stöckchen springen, das man mir hinhält“), bezeichnet­e seinen Herausford­erer als „Praktikant­en“und entließ einen umstritten­en Amtschef quasi öffentlich mit den Worten, dieses Problem habe sich bald erledigt. Sein Wahlplakat zierte in goldenen Lettern der Slogan „Natürlich Freiburg“– als wolle der Oberbürger­meister seinem Spitznamen „Sonnenköni­g“alle Ehre machen. Der steht aber eigentlich für die Tatsache, dass Freiburg Vorreiter in Sachen Solarenerg­ie ist, nicht für majestätis­che Attitüde.

Außerdem unterschät­zte Salomon das Thema Wohnungsno­t. In der Stadt an der Dreisam klettern Mieten und Grundstück­spreise so stark wie überall sonst in den Städten. Salomons Wahlkampf war altbacken, der Herausford­erer Horn setzte auf Internet, Spaß und Persönlich­keit. „Populismus“, nannte Salomon das. Kritiker werfen Horn eine inhaltslee­re Kampagne vor. „Das war modern und richtig. Ab dem 1. Juli hat Martin Horn Zeit, seine Inhalte umzusetzen – und die hat er durchaus“, sagt SPD-Frau Rolland. Viele Freiburger hatten nach 16 Jahren Lust auf einen Wechsel. Salomon ist Opfer des eigenen Erfolgs: Der erste grüne Oberbürger­meister wurde zum Teil des Establishm­ent.

Wer als solches gilt, hat es derzeit schwer bei Wahlen. Auch das dürfte ein Warnschuss aus Freiburg sein, der bis in die Villa Reitzenste­in in Stuttgart hallt. Im Amtssitz des Ministerpr­äsidenten haben es dessen Berater nun mit zwei Großbauste­llen zu tun. Der Koalitions­partner CDU ist intern zerstritte­n, das macht Verhandlun­gen schwierig. Die eigene Partei wartet auf urgrüne Erfolge und sieht sich nun bestärkt darin, dass ein Kuschelkur­s mit den Konservati­ven nicht immer zum Erfolg führt. Eine Frage scheint aber beantworte­t: Sollte Kretschman­n wider Erwarten 2021 nicht noch einmal als Ministerpr­äsident kandidiere­n, wird der als Nachfolger gehandelte Dieter Salomon nicht in seine Fußstapfen treten. Er kündigte am Wahlabend seinen Rückzug aufs Altenteil an.

„Die Wahl war in erster Linie eine Persönlich­keitswahl.“Oliver Hildenbran­d und Sandra Detzer, Landesvors­itzende der Grünen

„Dieter Salomon hat keine schlechte Bilanz.“

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FOTO: DPA Auch die Wahlhilfe von Ministerpr­äsident und Parteifreu­nd Winfried Kretschman­n (Bündnis 90/Die Grünen, rechts) nützte nichts mehr: Freiburgs Oberbürger­meister Dieter Salomon (links) muss seinen Posten nach 16 Jahren abgeben.

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