Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Eine ganz besondere Leistungss­chau

Die Blindenfuß­ball-Bundesliga gastiert zu den „Wangener Welten“im Allgäu

- Von Michael Panzram

WANGEN - Timo Hildebrand sah richtig froh aus, als er sich nach Spielende endlich die blickdicht­e Brille abnehmen durfte. Benjamin Lauth konnte es gar nicht schnell genug gehen, sich von den Pflastern auf seinen Augen zu befreien. André Trulsen legte ebenfalls zügig alles ab, was ihm in den vorangegan­genen 20 Minuten die Sicht genommen hatte. Auch wenn die drei Ex-Profis es nicht sahen: Gespürt hatten sie dennoch, dass sie gerade eine echte Lehrstunde in Blindenfuß­ball bekommen hatten. „Es war mental sehr anstrengen­d“, resümierte der frühere Stuttgarte­r Torhüter Hildebrand, als er den Grenzberei­ch wieder verlassen hatte. „Du brauchst lange, dich überhaupt mal zu orientiere­n“, sagte der Ex-St.-Paulianer Trulsen: „Es war eine besondere Selbsterfa­hrung.“

Wohl wahr. Wahrschein­lich nie waren die Herren Hildebrand, Trulsen und Lauth in ihrer Profikarri­ere auch nur annähernd hilflos über den Rasen gestolpert wie am Samstagnac­hmittag auf dem kleinen Court hinter der Argensport­halle in Wangen im Allgäu. Eine Prominente­nauswahl, zu der noch Matthias Pfuhl vom VfL Pfullingen gehörte, stellte sich in einem Einlagespi­el der Herausford­erung, sich mit einer profession­ellen Blindenman­nschaft zu messen. Das Spiel fand im Rahmen des ersten Spieltags der Blindenfuß­ball-Bundesliga statt, der in die „Wangener Welten“– eine von der Stadt veranstalt­ete Leistungss­chau – eingebette­t wurde.

Der rasselnde Ball klebt förmlich an den Füßen

Nur wenige Minuten hatten die früheren Fußballpro­fis, um etwas auf dem engen Kunstrasen zu trainieren und sich daran zu gewöhnen, sich ohne Sicht zu bewegen und Fußball zu spielen. Die Überwindun­g, sich schneller als im Schneckent­empo über den Platz zu tasten, war den Prominente­n anzumerken. Doch nach und nach wurden die Bewegungen flüssiger, alle Beteiligte­n mutiger. Mit dem Anpfiff war es dann aber vorbei mit der Herrlichke­it. Die Blindenman­nschaft zeigte den Zuschauern, was ohne Sicht möglich ist. Der mit einer Rassel versehene Ball klebte förmlich an den Füßen der besten Blindenfuß­baller Deutschlan­ds, die sich mit kleinen Schritten und kurzen Ballkontak­ten fortbewegt­en. Dazu gab es gezielte Anweisunge­n von sogenannte­n Guides, die hinter den Toren standen. Bei den teilweise strammen Schüssen der Blindenfuß­baller aus wenigen Metern war denn auch der sehende Torhüter machtlos.

Ernüchtert und orientieru­ngslos fragte Hildebrand in der Halbzeit: „Hatten wir schon eine Torchance?“Womöglich ahnte er die Antwort, die eindeutig „Nein“lautete. Während ihm nach der Pause wenigstens ein Erfolgserl­ebnis vergönnt war, fand Trulsen überhaupt nicht in den Rhythmus. Einmal kassierte er eine Verwarnung für einen ungestümen Einsatz, später drosch er den Ball auf die Zuschauert­ribüne – wenn auch unabsichtl­ich. „Ich dachte, ich spiele den steil“, sagte er lachend. Hildebrand dagegen durfte sich über ein erzieltes Tor zum 1:4-Endstand freuen, wenige Sekunden vor Schluss fälschte er einen gegnerisch­en Freistoß so ab, dass der Ball ins Aus ging. Seine Reaktion: Ein lautes „Ja“und zum Jubel erhobene Hände. „Man hat erst nichts kapiert“, sagte er nach dem Schlusspfi­ff. Gehörig schwitzend fügte er hinzu: „Das hat mega Spaß gemacht.“

Mit Spaß hatte das, was wenig später folgte, wenig zu tun. Vielmehr bekamen die Zuschauer eine Leistungss­chau der ganz besonderen Art geboten. Im letzten Spiel des Tages standen sich der FC Schalke 04 und der Deutsche Blindenfuß­ball-Meister FC St. Pauli gegenüber. Zuvor waren schon der MTV Stuttgart und die SF BG Blista Marburg aufeinande­rgetroffen. Das Tempo, das die blinden Spieler anschlugen, war bemerkensw­ert. „Voy!“hallte es permanent über das Feld, mit dem spanischen Wort für „Ich komme!“kündigen sich angreifend­e Spieler beim ballführen­den Spieler an. Während die Hamburger eine starke, relativ ausgeglich­ene Mannschaft aufs Feld schickten, konzentrie­rte sich bei den Schalkern fast alles auf Hasan Koparan. Der 30-Jährige ist einer der besten Blindenfuß­baller Deutschlan­ds, spielt in der Nationalma­nnschaft und ist bei Schalke fürs Toreschieß­en zuständig. Im Gegensatz zu Hildebrand und Co. im Spiel zuvor war Koparan ganz in seinem Element – vielmehr in seinem „Wohnzimmer“, so bezeichnet er den Court.

Gegen St. Pauli lief er sich zwar immer wieder an der eng stehenden Abwehr fest, kam so zu ganz wenigen Abschlüsse­n, rieb sich oft an der Bande auf und blieb ohne Torerfolg. Das Tempo allerdings, das er und alle anderen auf dem Feld zeigten, sorgte nicht nur bei den Herren Hildebrand, Lauth und Trulsen für anerkennen­de Blicke. „Es braucht ein bisschen Mut und Orientieru­ngsvermöge­n, dann ist es kein Problem, sich frei zu bewegen“, erklärte Koparan. Unermüdlic­h liefen beide Teams an, manchmal so schnell, dass ein Zusammenst­oß unausweich­lich schien – und doch alles immer ohne harten Kontakt ausging, weil die Blindenfuß­baller sehr genau wussten, wo sie gerade sind und wo der nächste Gegner sein muss.

Gebremst wurden die Spieler nur von nahen Kirchturmg­locken, die ausgerechn­et in der Schlusspha­se eine volle Viertelstu­nde schlugen, und die Schiedsric­hter dazu veranlasst­en, die auf eine Stunde angesetzte Partie zu unterbrech­en. Denn während des Spiels muss es rund um den Court möglichst still sein, damit die Anweisunge­n und der rasselnde Ball gut zu hören sind. Danach ging es aber weiter – und das weiterhin nicht selten im Vollspeed. Der FC St. Pauli gewann zwar verdient 2:0, den Applaus von den Rängen verdienten aber beide Mannschaft­en.

Für Timo Hildebrand ist sein Engagement für den Blindenfuß­ball mit seinem Einsatz am Samstag in Wangen übrigens keinesfall­s beendet. Er wird vielmehr künftig als Botschafte­r der Sepp-HerbergerS­tiftung des Deutschen FußballBun­des DFB auftreten. Einer der Schwerpunk­te der Stiftung ist der Blindenfuß­ball.

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FOTOS: MICHAEL PANZRAM Der Schalker Hasan Koparan (am Ball) wird von zwei Spielern des FC St. Pauli bedrängt.
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Hinter den Toren steht jeweils ein Guide, der den Blindenfuß­ballern hilft, sich auf dem Platz zu orientiere­n. Die Torhüter sind die einzigen Spieler, die etwas sehen dürfen.
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Wo ist der Ball? Timo Hildebrand­s erste Gehversuch­e als Blindenfuß­baller.

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