Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Eine ganz besondere Leistungsschau
Die Blindenfußball-Bundesliga gastiert zu den „Wangener Welten“im Allgäu
WANGEN - Timo Hildebrand sah richtig froh aus, als er sich nach Spielende endlich die blickdichte Brille abnehmen durfte. Benjamin Lauth konnte es gar nicht schnell genug gehen, sich von den Pflastern auf seinen Augen zu befreien. André Trulsen legte ebenfalls zügig alles ab, was ihm in den vorangegangenen 20 Minuten die Sicht genommen hatte. Auch wenn die drei Ex-Profis es nicht sahen: Gespürt hatten sie dennoch, dass sie gerade eine echte Lehrstunde in Blindenfußball bekommen hatten. „Es war mental sehr anstrengend“, resümierte der frühere Stuttgarter Torhüter Hildebrand, als er den Grenzbereich wieder verlassen hatte. „Du brauchst lange, dich überhaupt mal zu orientieren“, sagte der Ex-St.-Paulianer Trulsen: „Es war eine besondere Selbsterfahrung.“
Wohl wahr. Wahrscheinlich nie waren die Herren Hildebrand, Trulsen und Lauth in ihrer Profikarriere auch nur annähernd hilflos über den Rasen gestolpert wie am Samstagnachmittag auf dem kleinen Court hinter der Argensporthalle in Wangen im Allgäu. Eine Prominentenauswahl, zu der noch Matthias Pfuhl vom VfL Pfullingen gehörte, stellte sich in einem Einlagespiel der Herausforderung, sich mit einer professionellen Blindenmannschaft zu messen. Das Spiel fand im Rahmen des ersten Spieltags der Blindenfußball-Bundesliga statt, der in die „Wangener Welten“– eine von der Stadt veranstaltete Leistungsschau – eingebettet wurde.
Der rasselnde Ball klebt förmlich an den Füßen
Nur wenige Minuten hatten die früheren Fußballprofis, um etwas auf dem engen Kunstrasen zu trainieren und sich daran zu gewöhnen, sich ohne Sicht zu bewegen und Fußball zu spielen. Die Überwindung, sich schneller als im Schneckentempo über den Platz zu tasten, war den Prominenten anzumerken. Doch nach und nach wurden die Bewegungen flüssiger, alle Beteiligten mutiger. Mit dem Anpfiff war es dann aber vorbei mit der Herrlichkeit. Die Blindenmannschaft zeigte den Zuschauern, was ohne Sicht möglich ist. Der mit einer Rassel versehene Ball klebte förmlich an den Füßen der besten Blindenfußballer Deutschlands, die sich mit kleinen Schritten und kurzen Ballkontakten fortbewegten. Dazu gab es gezielte Anweisungen von sogenannten Guides, die hinter den Toren standen. Bei den teilweise strammen Schüssen der Blindenfußballer aus wenigen Metern war denn auch der sehende Torhüter machtlos.
Ernüchtert und orientierungslos fragte Hildebrand in der Halbzeit: „Hatten wir schon eine Torchance?“Womöglich ahnte er die Antwort, die eindeutig „Nein“lautete. Während ihm nach der Pause wenigstens ein Erfolgserlebnis vergönnt war, fand Trulsen überhaupt nicht in den Rhythmus. Einmal kassierte er eine Verwarnung für einen ungestümen Einsatz, später drosch er den Ball auf die Zuschauertribüne – wenn auch unabsichtlich. „Ich dachte, ich spiele den steil“, sagte er lachend. Hildebrand dagegen durfte sich über ein erzieltes Tor zum 1:4-Endstand freuen, wenige Sekunden vor Schluss fälschte er einen gegnerischen Freistoß so ab, dass der Ball ins Aus ging. Seine Reaktion: Ein lautes „Ja“und zum Jubel erhobene Hände. „Man hat erst nichts kapiert“, sagte er nach dem Schlusspfiff. Gehörig schwitzend fügte er hinzu: „Das hat mega Spaß gemacht.“
Mit Spaß hatte das, was wenig später folgte, wenig zu tun. Vielmehr bekamen die Zuschauer eine Leistungsschau der ganz besonderen Art geboten. Im letzten Spiel des Tages standen sich der FC Schalke 04 und der Deutsche Blindenfußball-Meister FC St. Pauli gegenüber. Zuvor waren schon der MTV Stuttgart und die SF BG Blista Marburg aufeinandergetroffen. Das Tempo, das die blinden Spieler anschlugen, war bemerkenswert. „Voy!“hallte es permanent über das Feld, mit dem spanischen Wort für „Ich komme!“kündigen sich angreifende Spieler beim ballführenden Spieler an. Während die Hamburger eine starke, relativ ausgeglichene Mannschaft aufs Feld schickten, konzentrierte sich bei den Schalkern fast alles auf Hasan Koparan. Der 30-Jährige ist einer der besten Blindenfußballer Deutschlands, spielt in der Nationalmannschaft und ist bei Schalke fürs Toreschießen zuständig. Im Gegensatz zu Hildebrand und Co. im Spiel zuvor war Koparan ganz in seinem Element – vielmehr in seinem „Wohnzimmer“, so bezeichnet er den Court.
Gegen St. Pauli lief er sich zwar immer wieder an der eng stehenden Abwehr fest, kam so zu ganz wenigen Abschlüssen, rieb sich oft an der Bande auf und blieb ohne Torerfolg. Das Tempo allerdings, das er und alle anderen auf dem Feld zeigten, sorgte nicht nur bei den Herren Hildebrand, Lauth und Trulsen für anerkennende Blicke. „Es braucht ein bisschen Mut und Orientierungsvermögen, dann ist es kein Problem, sich frei zu bewegen“, erklärte Koparan. Unermüdlich liefen beide Teams an, manchmal so schnell, dass ein Zusammenstoß unausweichlich schien – und doch alles immer ohne harten Kontakt ausging, weil die Blindenfußballer sehr genau wussten, wo sie gerade sind und wo der nächste Gegner sein muss.
Gebremst wurden die Spieler nur von nahen Kirchturmglocken, die ausgerechnet in der Schlussphase eine volle Viertelstunde schlugen, und die Schiedsrichter dazu veranlassten, die auf eine Stunde angesetzte Partie zu unterbrechen. Denn während des Spiels muss es rund um den Court möglichst still sein, damit die Anweisungen und der rasselnde Ball gut zu hören sind. Danach ging es aber weiter – und das weiterhin nicht selten im Vollspeed. Der FC St. Pauli gewann zwar verdient 2:0, den Applaus von den Rängen verdienten aber beide Mannschaften.
Für Timo Hildebrand ist sein Engagement für den Blindenfußball mit seinem Einsatz am Samstag in Wangen übrigens keinesfalls beendet. Er wird vielmehr künftig als Botschafter der Sepp-HerbergerStiftung des Deutschen FußballBundes DFB auftreten. Einer der Schwerpunkte der Stiftung ist der Blindenfußball.