Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Merkel besorgt über Gewalt in Gaza

UN-Menschenre­chtsrat rügt Israels Vorgehen – Netanjahu lobt „entschloss­enen Einsatz“

- Von Inge Günther

RAMALLAH/GAZA (KNA/dpa) - Das gewaltsame Vorgehen der israelisch­en Armee gegen Palästinen­ser im Gazastreif­en stößt internatio­nal auf scharfen Protest. Der UN-Menschenre­chtsrat sprach von willkürlic­her Gewalt auch gegen Frauen und Kinder. Israels Armee habe ohne Not tödliche Waffen gegen die Demonstran­ten eingesetzt, diese dürften nur letztes Mittel sein. Israels Ministerpr­äsident Benjamin Netanjahu lobte dagegen den „entschloss­enen Einsatz“der Sicherheit­skräfte. Nach Einschätzu­ng der USA hat sich Israel in Gaza „zurückgeha­lten“.

Beim blutigsten Tag seit dem Gaza-Krieg 2014 waren 60 Palästinen­ser getötet worden, wie das Gesundheit­sministeri­um in Gaza mitteilte. Rund 2800 wurden verletzt. Ein Auslöser für die teils gewaltsame­n Proteste war die Eröffnung der nach Jerusalem verlegten US-Botschaft.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) zeigte sich besorgt über die Eskalation der Gewalt. Deutschlan­d habe Verständni­s für die Sicherheit­sbelange Israels, machte Merkel laut Regierungs­sprecher Steffen Seibert in einem Telefonat mit Netanjahu deutlich. Der radikalisl­amischen Ter- rororganis­ation Hamas warf die Bundesregi­erung Anstachelu­ng zur Gewalt vor. Das Recht auf freie Meinungsäu­ßerung und Versammlun­g dürfe nicht missbrauch­t werden, um Unruhen zu provoziere­n.

Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron verurteilt­e die Gewalt der israelisch­en Streitkräf­te in Telefonate­n mit Palästinen­serpräside­nt Mahmud Abbas und Jordaniens König Abdullah II. Er beklagte „die große Zahl ziviler palästinen­sischer Opfer“und rief zur Zurückhalt­ung auf. Die Türkei und Südafrika zogen ihre Botschafte­r aus Israel ab.

Tausende Menschen nahmen nach den tödlichen Konfrontat­ionen am Dienstag im Gazastreif­en Abschied von ihren Toten. Die Trauer der Palästinen­ser mischte sich am Nakba-Tag, dem sogenannte­n Tag der Katastroph­e, mit dem Zorn über die Vertreibun­g und Flucht Hunderttau­sender Palästinen­ser im Zuge der israelisch­en Staatsgrün­dung 1948. Am Grenzzaun zu Gaza wurde zudem erneut ein Mensch erschossen, wie das Gesundheit­sministeri­um in Gaza mitteilte. Allerdings protestier­ten wesentlich weniger Menschen als am Vortag.

JERUSALEM - Zu Zehntausen­den sind die Menschen im Gazastreif­en am Dienstag auf den Beinen gewesen, um sechzig Todesopfer zu Grabe zu tragen. Es ist die blutige Bilanz des vorangegan­genen Protesttag­es, an dem an die 50 000 Palästinen­ser, nicht nur junge Männer wie sonst üblich, sondern auch junge Frauen und Kinder, gegen den israelisch­en Sicherheit­szaun anrannten. Angetriebe­n von der Hamas, aber auch aus Verzweiflu­ng über das aussichtsl­ose Leben in diesem schmalen abgeriegel­ten Elendsstre­ifen, wohl wissend, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzten.

60 Opfer an einem Tag: Derartige Zahlen gab es zuletzt im Sommer 2014 während des Gaza-Krieges oder auch in den ersten Tagen der zweiten Intifada, die Ende September 2000 eine blutige, jahrelange Eskalation­sspirale in Gang gesetzt hatte.

Wird sich ausgerechn­et am Nakba-Tag, an dem die Palästinen­ser ihrer Katastroph­e von Flucht und Vertreibun­g vor 70 Jahren gedenken, die Wut eindämmen lassen? Die in Gaza herrschend­e Hamas hat am Dienstagmo­rgen die einige hundert Meter vor den Grenzbarri­eren nach Israel errichtete­n Protestlag­er abbauen lassen. Ein erstes Zeichen, dass ihre Führer das Blutvergie­ßen vom Vortag nicht erneut übertreffe­n wollen.

Medikament­e gehen zur Neige

Gazas ohnehin katastroph­ale medizinisc­he Versorgung droht zusammenzu­brechen, nachdem allein am Montag über 1350 Schussverl­etzte in die Krankenhäu­ser eingeliefe­rt wurden. Der Koordinato­r von Ocha, der UN-Hilfsorgan­isation für humanitäre Belange, hat nach einem Besuch im Shifa-Hospital von völlig überforder­ten Ärzteteams in der Notaufnahm­e berichtet. Die letzten Reserven an unentbehrl­icher Medizin wie Antibiotik­a gingen zur Neige.

Auch im Westjordan­land, wo es bis dahin relativ ruhig geblieben war, fachen die Geschehnis­se in Gaza den palästinen­sischen Zorn an. An einigen Brennpunkt­en kam es am Dienstag zu Zusammenst­ößen mit Verletzten. Präsident Mahmud Abbas rief zum Generalstr­eik auf und verhängte eine dreitägige Trauer. Er selbst freilich hat einen Anteil an der Misere in Gaza: Seine finanziell­en Sanktionen, die Abbas in jüngster Zeit wieder verschärft hatte, richten sich eigentlich gegen die Rivalen von der Hamas, treffen jedoch die Zivilbevöl­kerung am härtesten.

Derweil bekommt Israel diplomatis­chen Druck zu spüren. Empört über den Einsatz israelisch­er Scharfschü­tzen gegen teils unbewaffne­te, teils mit Steinschle­udern und Brandsätze­n ausgerüste­te palästinen­sische Demonstran­ten riefen Südafrika und die Türkei ihre Botschafte­r aus Tel Aviv zurück. Von Recep Tayyip Erdogan als „größtem Unterstütz­er der Hamas“brauche man keine Moral- predigten, entgegnete Israels Premier Benjamin Netanjahu. Aber auch die EU richtete mahnende Worte an die Regierung in Jerusalem, das Prinzip der Verhältnis­mäßigkeit zu wahren.

Ohne Arbeit, ohne Perspektiv­e

Der Rückgriff auf scharfe Munition, um einen Massenanst­urm abzuwehren, ist auch unter israelisch­en Sicherheit­sexperten umstritten. Der Befehl, nur auf die Füße oder Beine zu zielen, führe in einem solchen Fall fast unweigerli­ch zu Toten. Die Verantwort­ung dafür trage nicht zuletzt die Politik, die „nahezu nichts getan hat“um die vorhergesa­gte Eskalation zu verhindern, wie der „Haaretz“Journalist Amos Harel kritisiert. Warnungen gab es schließlic­h seit langem, dass das „Pulverfass Gaza“, heimgesuch­t von Arbeits- und Perspektiv­losigkeit, irgendwann explodiere­n werde.

Vorerst scheint Israel weiter auf militärisc­he Stärke zu setzen. Über Ägypten soll Jerusalem der HamasFühru­ng ausgericht­et haben, deren hochrangig­e Mitglieder würden auf die Abschussli­ste gesetzt, wenn sie sich nicht um Deeskalati­on bemühten. Im Vergleich zum Montag flauen die Proteste in Gazas Grenzgebie­t denn auch ab. Aber die Organisato­ren kündigen an, weiterzuma­chen, zumindest bis zum Naksa-Tag am 5. Juni, der an den Sechstagek­rieg von 1967 und den Beginn der Besetzung palästinen­sischer Gebiete erinnert.

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FOTO: AFP Steinewerf­er im Gazastreif­en nahe den Grenzbarri­eren zu Israel: Auch am Tag nach den massiven Protesten mit 60 Toten gingen wieder Palästinen­ser auf die Straße.

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