Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Untergang statt Neuanfang
Beim EU-Gipfel müssen Deutschland und Frankreich gemeinsam den Zerfall der Europäischen Union verhindern
PARIS - Emmanuel Macron ist erst 40 Jahre alt, doch er muss sich schon Sorgen um sein politisches Erbe machen. Denn der Streit um die Einwanderungspolitik könnte die EU zur Implosion bringen. Ausgerechnet jene EU, deren prominentestes Aushängeschild der französische Präsident ist. Zur Europahymne zog er in den Hof des Louvre ein, für sein europäisches Engagement bekam er den Aachener Karlspreis. Vier Reden hat der einstige Wirtschaftsminister zum Thema Europa gehalten. Die wichtigste davon an der Pariser Universität Sorbonne ist bereits neun Monate her.
Doch getan hat sich seither nichts. Der französische Präsident steht isoliert da. Und das nicht nur, weil ihm in Italien mit dem Rücktritt von Matteo Renzi ein Verbündeter wegbrach. Sondern auch, weil er meinte, im Alleingang europäische Außenpolitik betreiben zu müssen. Ein Versuch, der kläglich scheiterte, wie der Ausstieg der USA aus dem Iran-Abkommen zeigt.
Deutschland wirkt dabei wie der getriebene Partner eines Staatschefs, der alles selbst in die Hand nehmen will. Sogar zur Regierungskrise im Nachbarland bezieht er Stellung. Bei der Pressekonferenz mit dem italienischen Regierungschef Giuseppe Conte konnte Macron es sich nicht verkneifen, eine Breitseite gegen Innenminister Horst Seehofer (CSU) abzufeuern. Auf die Frage, ob in Italien der fremdenfeindliche Innenminister Matteo Salvini in der Flüchtlingspolitik das Sagen habe, antwortete der Präsident: „Italien hat einen Regierungschef und Deutschland auch. Wenn die Länder sich einigen, dann geschieht das auf dieser Ebene, denn das sind diejenigen, die vor dem Volk und dem Parlament verantwortlich sind.“ einbestellte. „Es ist paradox zu sehen, dass er derjenige ist, der die Uneinigkeit zwischen den Mitgliedsstaaten der Union verstärkt, wo er sich doch als Geburtshelfer eines gestärkten Europas sah“, schreibt die Zeitung „Le Figaro“. „Der große Traum Macrons ist seine Fähigkeit zu zeigen, dass er die EU zu einem Projekt der Neugründung bringen kann.“Nach gut einem Jahr im Amt scheint dieser Traum allerdings zum Albtraum zu werden.
Die EU steuert eher auf ihren Untergang zu als auf einen Neuanfang. Und das, obwohl der G7-Gipfel gezeigt hat, dass nur ein Zusammenschluss der Europäer gegen die Bedrohungen von außen helfen kann.
„Wie soll er verändern, wo er doch kaum Unterstützung von den Mitgliedsstaaten bekommt und die von Merkel begrenzt ist?“, verteidigt der frühere Außenminister Hubert Védrine den Präsidenten. Neun Monate brauchte die Bundeskanzlerin, bis sie Macron ihre Antwort auf seine europapolitischen Vorschläge an der Sorbonne gab. In der Form ganz anders als die große Rede des Staatschefs. In Frankreich, wo die großen Gesten wichtig sind, stellte sie mit ihrem Zeitungsinterview kaum jemanden zufrieden: „Es wird keine große deutsche Umwälzung geben. Treu ihrem Ruf macht Merkel die Merkel: Sie schreitet voran, aber mit kleinen Schritten“, kommentiert die Zeitung „Le Monde“.
Die Politik der kleinen Schritte dürfte bei der Sitzung des deutschfranzösischen Ministerrates am heutigen Dienstag in Meseberg weitergehen. Das Treffen ist die letzte Gelegenheit, sich vor dem EU-Gipfel Ende Juni auf einen gemeinsamen Vorschlag für Reformen zu einigen. „Wir müssen nicht schon zu Beginn der Debatte über jedes Detail übereinstimmen, aber es darf gerade auch wegen der Unsicherheit im transatlantischen Verhältnis nicht den Hauch eines Zweifels geben, dass wir gerade jetzt Hand in Hand arbeiten“, forderte Außenminister Heiko Maas vergangene Woche. Der Schulterschluss mit Frankreich ist für ihn selbstverständlich.
Kein blindes Ja der Kanzlerin
Doch dass der kein blindes Ja bedeutet, machte die Kanzlerin deutlich. Im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“zeigte sie auf, wo ihre Grenzen liegen: Ein Investitivhaushalt im kleinen zweistelligen Milliardenbereich, ein Europäischer Währungsfonds mit Mitsprache der Parlamente.
Ihre Vorschläge sind deutlich konkreter als die Ideen von Macron. Seinen Visionen stellt sie ihre Listen gegenüber. Die Aufgabe der Minister ist es, nun beide in Übereinklang zu bringen. Eine Vereinbarung sei in Reichweite, hieß es am Wochenende von französischer Seite. Sogar beim heiklen Thema Eurozonenbudget habe es Fortschritte gegeben.
Deutschland und Frankreich ist klar, dass sie in diesen Krisenzeiten aufeinander angewiesen sind wie selten zuvor. Nur wenn sie schnell einen gemeinsamen Nenner finden, kann auch die EU dauerhaft überleben. Dass das Treffen in Meseberg wegen der deutschen Regierungskrise ausfallen könnte, weist der Elysée als Szenario zurück. „Das ziehen wir nicht in Betracht“, heißt es. Eine Absage würde nicht nur heißen, dass die Bundesregierung am Ende ist, sondern auch die europäischen Visionen von Macron.