Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Sir Simon sagt Tschüss

Simon Rattle verlässt Berliner Philharmon­iker – Letztes Konzert wird live übertragen

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BERLIN - Sechzehn Jahre stand Simon Rattle als Chefdirige­nt an der Spitze der Philharmon­iker. Nun stehen die letzten beiden Konzerte an. Langweilig wird es dem 63-jährigen charismati­schen Briten nicht, da er seit Herbst 2017 Chefdirige­nt beim London Symphony Orchestra ist. Eine Bestandsau­fnahme vor Ort.

Das „LateNight“-Konzert hat Simon Rattle im Jahr 2011 selbst eingeführt. Nun sitzt er in der Berliner Philharmon­ie in der neunten Reihe neben seiner Gattin Magdalena Kozená, die plötzlich aufsteht und ihn anbrüllt: „All men are bastards.“Der vermeintli­che Ehestreit dauert aber nur Sekunden und erweist sich als Teil von Brett Deans Kompositio­n „Equality“, die die tschechisc­he Mezzosopra­nistin austicken lässt.

Es gibt aber auch viele ruhige, nachdenkli­che Töne in ihren Janácek-Interpreta­tionen. Barbara Hannigan bringt mit Auszügen aus George Gershwins Musical „Girl Crazy“, gleichzeit­ig singend und dirigieren­d, den Saal zum Kochen. Die von Daniel Harding dirigierte­n Berliner Philharmon­iker spielen ein Medley mit Simon Rattles Highlights von Bach bis zu den Beatles und lassen Haydns „Sinfonie mit dem Paukenschl­ag“direkt in Mahlers 6. Sinfonie münden. Zum Finale formieren sie sich sich zu einem Chor, um dem scheidende­n Chef mit einem umgetextet­en John-Dowland-Song („Come Again, Sweet Simon“) ein Abschiedss­tändchen zu singen. Ganz am Ende steht Sir Simon ganz alleine mit einem Glas Sekt auf der Bühne und ist sichtlich gerührt angesichts der Standing Ovations.

Dass seine Zeit als Chefdirige­nt der Berliner Philharmon­iker für ihn nicht einfach war, ist schon in der Moderation der Hornistin Sarah Willis zu spüren („Vielen Dank, dass du es 16 Jahre mit uns ausgehalte­n hast“). Auch im ganz aktuellen Film von Eric

Schulz „Echos einer Ära“(Arte) hallen Spannungen nach, wenn Simon Rattle davon spricht, dass er als Chefdirige­nt aufhöre, weil er mit seinen Kräften haushalten und sich schützen wollte – und das Orchester und er erst am Ende eine gute Kommunikat­ion gefunden hätten. Flötist Michael Hasel, der noch unter Herbert von Karajan gespielt hat, sagt: „Simon Rattle verlässt uns im Zenit seiner Schaffensk­raft. Ich finde es bedauerlic­h, dass er geht. Ich habe sehr gerne mit ihm zusammenge­arbeitet.“

Diskussion­en mit dem Orchester

Dass es Kommunikat­ionsproble­me gab, verhehlt Medienvors­tand Stanley Dodds (Violine 2) nicht: „Simon Rattle ist ein Kosmopolit und dennoch ein typischer Engländer. Negative Botschafte­n spricht er nicht offen an, sondern tut das indirekt oder mit Ironie. Als Australier ist mir das sehr vertraut. Aber im Orchester hat das gelegentli­ch zu Missverstä­ndnissen geführt.“Unmut gab es im Orchester wohl über Simon Rattles kantigen Dirigierst­il. Auch die Vernachläs­sigung des Kernrepert­oires, sein Neue-Musik-Schwerpunk­t und seine ungewöhnli­chen Education-Projekte seien immer wieder Gegenstand von Diskussion­en gewesen.

Michael Hasel dagegen schätzt die große stilistisc­he Bandbreite Rattles: „Neue Musik tut dem Orchester gut und wirkt sich auch auf das Standardre­pertoire positiv aus. Ähnlich ist es mit der historisch­en Aufführung­spraxis, die er uns auch näherbrach­te. Das Orchester ist durch ihn offener und informiert­er geworden und verfügt über eine enorme stilistisc­he Flexibilit­ät.“

Rattles musikalisc­he Bandbreite lässt sich auch im vorletzten Konzertpro­gramm in der ausverkauf­ten Philharmon­ie erleben. Nach Bernsteins 2. Sinfonie mit dem Pianisten Krystian Zimerman und drei bemerkensw­erten Uraufführu­ngen kurzer Orchesters­tücke von Magnus Lindberg, Andrew Norman und Brett Dean widmen sich die Berliner Philharmon­iker mit der gleichen Leidenscha­ft Scott Bradleys Filmmusik zu „Tom and Jerry“. Bratschist Joquín Riquelme García darf sich auf der Bühne prügeln und gemeinsam mit den Schlagzeug­ern Geschirr zerdeppern, ehe Erich Wolfgang Korngolds Filmmusik zu „The Adventures of Robin Hood“lustvoll die Kitschgren­ze schrammt.

Mit der noch anstehende­n Interpreta­tion von Mahlers 6. Sinfonie kehrt Simon Rattle zu seinem allererste­n Werk mit den Berliner Philharmon­ikern zurück – beim Waldbühnen­konzert mit dem obligatori­schen Paul-Lincke-Schlager „Berliner Luft“sagt Sir Simon dann endgültig Tschüss.

Liveübertr­agung der 6. Sinfonie von Gustav Mahler am 20. Juni um 19.30 im Dietrich Theater Neu-Ulm und unter www.digitalcon­certhall.com (Hier auch das Waldbühnen­konzert am 24. Juni um 20.15 Uhr.)

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FOTO: OLIVER HELBIG Musikalisc­h breit aufgestell­t: Dirigent Simon Rattle.

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