Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Die Säulen bröckeln
Acht Weltmeister von 2014 spielten gegen Mexiko – hat Joachim Löw es verpasst, einen Schnitt zu machen?
MOSKAU - Sie waren auf dem Höhepunkt ihrer Karrieren, hatten den Gipfel erklommen. Vor vier Jahren in Rio de Janeiro wurde die deutsche Nationalelf um Kapitän Philipp Lahm Weltmeister. Lahm setzte sich ab, trat wie Miroslav Klose und Per Mertesacker zurück. Ein großer Teil der 2014 erfolgreichen Seilschaft scheint nun in Russland auf dem Rückweg ins Tal zu sein. Beim Abstieg.
Auf dem Gipfel ist die Luft besonders dünn. Wer dort den WM-Pokal bekommt, kämpft ab diesem glorreichen Moment gegen einen Fluch an.
Drei der letzten vier Weltmeister sind vier Jahre später bereits in der Vorrunde ausgeschieden. Frankreich 2002 (mit zehn Champions beim Auftakt in der Startelf), Italien 2010 (mit sechs Titelverteidigern) und Spanien 2014 (mit acht Weltmeistern) blamierten sich beim Versuch, den schneidigen Winden, die ganz oben wehen, zu trotzen.
Hat man beim 0:1 gegen Mexiko, dem Turnierauftakt der deutschen Nationalelf bei der WM in Russland, das Ende einer Ära gesehen?
Erfahrung hat sie, die Mannschaft, die im Luschniki-Stadion zu Beginn auf dem Platz stand, es war die älteste deutsche WM-Elf seit dem Finale 2002 gegen Brasilien (0:2). Erfahrung, Routine – schön und gut. Aber hat die Klasse von 2014 noch die Klasse, das spielerisch-taktische Format, sich erneut den Titel holen zu können?
„Es geht nicht von alleine – ob du Weltmeister bist oder nicht“, sagte Jérôme Boateng. Acht Weltmeister von 2014 liefen in Moskau auf. Klammert man Torhüter Manuel Neuer (32) aus, der im schwachen Team einer der Besseren war, und Julian Draxler (24), der in Brasilien lediglich 14 Minuten im 7:1-Halbfinale zum Einsatz kam, bleiben sechs Spieler, die allesamt enttäuschten: die Innenverteidiger Boateng (29) und noch mehr Mats Hummels (29), die Mittelfeld-Zentrale um Toni Kroos (28), von den Mexikanern komplett aus dem Spiel genommen, Sami Khedira (31), völlig von der Rolle, und Mesut Özil (29) sowie Thomas Müller (28), zuständig für die rechte Außenbahn. Alles Führungsspieler, die ohne Ausstrahlung kickten, die den Rest der Mannschaft um die WMDebütanten Joshua Kimmich, Marvin Plattenhardt und Timo Werner weder an die Hand nehmen noch am langen Arm mitreißen konnten. Sie hatten mit sich und ihrer Leistung genug zu tun.
Die Säulen von Bundestrainer Joachim Löw bröckeln, das Weltmeisterfundament droht einzustürzen. „Wir haben eine relativ junge Mannschaft, keine zu alte, davon sind wir weit entfernt. Die, die schon länger dabei und unser Gerüst sind, verfügen über viel Erfahrung und hohe Qualität, auch wenn man das nicht so gesehen hat“, rechtfertigte sich Löw und verteidigte seine „starke Achse“. Die muss dringend repariert werden. Das 0:1 gegen Mexiko war für Teammanager Oliver Bierhoff „ein Zeichen, dass wir so nicht weitermachen können, dass wir uns so eine erste Halbzeit nicht erlauben können“.
Was macht Löw nun? „Den Plan über den Haufen schmeißen – das machen wir schon gar nicht“, sagte Löw. Die Etablierten müssen vorangehen. Auch, weil Löw verpasst hat, einen deutlichen Cut zu machen und die Titelverteidigertruppe mit noch mehr Perspektivspielern aus dem erfolgreichen Confed-Cup-Kader von 2017 zu ergänzen. Auf Leroy Sané verzichtete er ebenfalls.
Lahm nimmt seine Kameraden in Schutz: „Man muss dem Bundestrainer und seinem Team vertrauen. Er hat so viel Erfahrung, ist seit 2006 im Amt und seitdem waren wir Minimum immer im Halbfinale eines Turniers“, sagte er bei einem Besuch der deutschen Schule in Moskau. „Löw weiß, wie er eine Mannschaft zusammenstellen muss.“Er kann und muss es nun beweisen.
Was Hoffnung macht: Brasilien, mit sieben Titelverteidigern im Kader, schaffte es bei der WM 2006 immerhin ins Viertelfinale.