Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Neuer Berlinale-Chef Carlo Chatrian aus Locarno soll Kosslick beerben
Locarno-Chef Carlo Chatrian tritt 2019 die Nachfolge von Kosslick an
BERLIN - Plötzlich ging alles ganz schnell. Nach einer Hängepartie, die über ein Jahr andauerte, mit diversen verstrichenen offiziellen wie inoffiziellen Fristen und nach Gesprächen mit über 40 Kandidaten lud das Kulturministerium (BKM) am Dienstagmittag in Berlin zu einer Pressekonferenz: Am kommenden Freitag werde bekanntgegeben, wer im nächsten Frühjahr die Nachfolge des scheidenden Berlinale-Chefs Dieter Kosslick antreten wird.
Doch bereits am gleichen Abend meldete die Berliner „BZ“einen Namen, und im Minutentakt zog die Konkurrenz nach, bald auch die internationale Fachpresse. Und am Mittwoch bestätigten es auf Nachfrage jene „informierten Kreise“, die sich nicht offiziell zitieren lassen, auf deren Auskunft aber Verlass ist: Der 46-jährige Italiener Carlo Chatrian, seit 2012 Leiter der Filmfestspiele von Locarno, wird der neue künstlerische Leiter der Berlinale. Chatrian wird damit der wichtigere Teil einer Doppelspitze, auf die die vielfältigen Aufgaben Dieter Kosslicks in Zukunft aufgeteilt werden. Den kaufmännischen Teil der Direktion soll eine Frau übernehmen, deren Name am Freitag bekanntgegeben wird. Dem Vernehmen nach handelt es sich allerdings nicht um einen der Namen, die in den letzten Monaten gehandelt wurden. Es sei „eine Überraschung“, so die Ansage.
Die Entscheidung für eine Doppelspitze ist überzeugend: Die Zeiten der großen Zampanos und ihrer One-Man-Shows à la Kosslick sind schon lange vorbei. Kein großes A-Filmfestival außer Berlin wird heute von nur einer Person geführt. Kein Mensch kann einen derart großen, weitverzweigten Apparat wie die Berlinale kontrollieren, gleichzeitig über 1000 Filme sichten und überdies noch Kontakte zur weltweiten Filmszene pflegen. Eine Aufteilung in die kuratorische Programmverantwortung und in die kaufmännische Geschäftsführung ist daher einleuchtend.
Meister der Balance
Ebenso überzeugt die Entscheidung für die Person Chatrian. Mit dem Italiener hat nun auch die Berlinale endlich das, was alle anderen großen europäischen Festivals schon lange haben: einen echten Cinephilen an der Spitze, einen Direktor, der als Filmwissenschaftler ausgebildet wurde und der als Autor und Filmhistoriker gearbeitet hat.
Unter den großen Festivals der Welt ist Locarno der Berlinale am ähnlichsten. Mit 300 Filmen gibt es auch hier ein bisschen zu viele Filme und Sektionen. Eine Verschlankung wäre wünschenswert. Unabhängig davon hat Chatrian schon bewiesen, dass er den Spagat zwischen zarter Filmkunst und grobem Mainstream spielend bewältigt. Mit Locarno hat Berlin zudem schon früher gute Erfahrungen gemacht: Der beste und erfolgreichste Direktor der Berlinale-Geschichte, der Schweizer Moritz de Hadeln (Leiter von 1980-2001), war zuvor ebenfalls Direktor von Locarno.
Nun ist Berlin bekanntlich ein sehr spezielles, schwieriges Pflaster und kulturpolitisch vermintes Terrain. Man denke nur an die jüngsten Pleiten um Volksbühnen-Chef Chris Dercon, die Gestaltung des Humboldtforums und die schwierige Nachfolge der Filmschule DFFB. Doch auch davor dürfte dem aus dem norditalienischen Turin stammenden Chatrian nicht bange werden. „Wer mit der Tessiner TourismusMafia zurechtkommt“, so ein langjähriger Beobachter, „wird auch im Berliner Kultursumpf nicht untergehen.“
Im Gegenteil könnte es für Chatrian zum Vorteil werden, dass er von außen kommt. Denn in der deutschen Filmszene hat er keine Feinde, aber auch keine falschen Freunde, denen er irgendetwas schuldig ist. Das gleiche gilt auch für die Berlinale selbst, wo unter Kosslick knapp zwei Jahrzehnte lang fröhlich die Strukturen erstarrten. Chatrian wird nicht darum herumkommen, unbequeme Entscheidungen zu treffen, sprich liebgewordene Schrebergärtchen zu schließen und Personen auszutauschen.
Am schwierigsten dürfte es werden, die provinzielle, notorisch fremdenskeptische Berliner Medienlandschaft auf seine Seite zu bringen. Viele Hauptstadtblätter sind Kosslick seit Jahren in inniger Medienpartnerschaft verbunden und tun sich schwer mit einermanchmal auch kritischen Berichterstattung über die Berlinale. Alles was anders sein wird als unter dem Showman mit dem roten Schal dürfte erst Mal misstrauisch beäugt werden. Umso mehr darf man Chatrian eine faire Chance wünschen.