Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Stilvoll altern mit den Rolling Stones

Glitzer, Hits und zwei Stunden pure Energie beim Konzert in Stuttgart

- Von Kara Ballarin

STUTTGART - Vier Männer jenseits der 70, zwei Stunden pure Energie: Die Rolling Stones haben am Samstag die Stuttgarte­r Mercedes-BenzArena zum Beben gebracht. Und sie haben das geliefert, wofür manche der mehr als 40 000 Fans tief ins Portemonna­ie gegriffen haben und weit angereist sind: ein Best-of aus fünfeinhal­b Jahrzehnte­n Bandgeschi­chte. Sänger Mick Jagger kokettiert damit, wenn er bei diesem vorerst letzten Deutschlan­d-Konzert ihrer No-Filter-Tour sagt, und zwar auf Deutsch: „Wir spielen zum dritten Mal hier. Der Name des Stadions ist immer anders, aber die Songs bleiben die gleichen.“

Langsam steht die Sonne so tief, dass sie nur noch kleine Flecken der Tribüne beleuchtet. Es ist Samstag, 20.45 Uhr. Jubel brandet auf. Die wohl größte Band der Gegenwart erscheint auf der Bühne. Euphorie im Publikum, als die ersten Takte von „Street Fighting Man“erklingen. Die meisten in der nicht ganz ausverkauf­ten Arena erkennen den Song sofort, sie begleiten die Engländer lange schon, sind mit ihnen aufgewachs­en und gealtert.

Die Rolling Stones sind mehr als eine Band. Der Mund mit der ausgestrec­kten Zunge ist zu ihrer Ikone geworden, die so ziemlich auf der ganzen Welt verstanden wird. Die 1962 in England gegründete Band war für Generation­en von Rockbands prägend. Wenn sogar Giganten wie der Gitarrist Slash von den Guns‘n‘Roses am Wochenende zuvor beim Mannheim-Konzert die Zunge auf dem Shirt trägt: Mehr Huldigung und Ehrerbietu­ng gibt es kaum.

Dieser können sich die Stones auch am Samstag in Stuttgart sicher sein. Und sie ist verdient. Ermüdungse­rscheinung­en? Keine Spur. Mick Jagger wirbelt noch immer wie mit 20 in seinem unverwechs­elbaren Tanz über die Bühne. Im HoppsaLauf rast er über den 26 Meter langen Steg, der zu einem Plateau in der Menge führt. Er zuckt und windet sich, kreiselt mit ausgestrec­kten Armen um die eigene Achse. Den Seiden-Blouson mit dem Blumenmust­er, das an 3-D-Bilder aus den 90ern erinnert, tauscht er gegen ein pinkes Hemd in Glanz-Optik, später gegen ein schwarzes Glitzerhem­d. Viel Glamour, viele Pailletten, auch an den Schuhen von Gitarrist Ron Wood. Wer sagt, dass das Alter farblos und trist sein muss?

Die Chemie zwischen den Musikern stimmt – und das überträgt sich aufs Publikum. Der älteste Stone, Charlie Watts am Schlagzeug, mag mit seinen 77 Jahren vielleicht etwas an Feinmotori­k eingebüßt haben. Die Qualität der Musik schmälert das nicht. Gitarrist Keith Richards grinst beim fünften Song, „Let‘s Spend the Night Together“, und es scheint, dass die Sonne noch mal aufgeht. Danach zündet er sich erstmal eine Zigarette an. Nur Kakerlaken und er würden einen Atomkrieg überleben, heißt ein gängiger Scherz unter Fans. Der 74-Jährige scheint wirklich unverwüstl­ich. Nach einem Leben voller Drogen und Exzessen beugt und biegt er sich noch immer geschmeidi­g zu den Tönen, die er seiner Gitarre entlockt. Er gibt sich ein GitarrenBa­ttle mit Ronnie Wood, schaut manchmal auf seine Gitarre, als wolle er sie gleich auffressen. Es sieht nicht einmal peinlich aus, als er bei „Sympathy for the Devil“mit bis zum Bauch aufgeknöpf­tem Hemd zurück auf die Bühne kommt.

Tickets für 800 Euro

Mick Jagger fordert die Zuschauer zum Mitsingen auf. Zigtausend­e Kehlen erfüllen das Stadion mit dem bekannten „Wooo Hooo“, dem wiederkehr­enden Refrain des Lieds. Die vierte Liedzeile dichtet Jagger etwas um. Eigentlich heißt es darin: „Stole Many a Man‘s Soul and Faith“, etwa „habe vielen Männern die Seele und den Glauben gestohlen.“Statt „Man“ singt er „Fan“. Gestohlen vielleicht nicht, Millionen Fans verehren die Stones aus freiem Willen. Und aus selbem sind sie auch bereit, zum Teil horrende Summen dafür zu bezahlen, ihren Idolen ganz nah zu sein. Wer einen Stehplatz direkt an der Bühne, seitlich des Stegs, haben wollte, zahlte dafür 800 Euro. Früher standen so nah jene Fans, die vor einem Stadion gecampt haben, um rechtzeiti­g den besten Platz zu ergattern. Die Stones sind ein Produkt, das sich vermarkten lässt wie geschnitte­n Brot.

Während des Konzerts spielen solche Erwägungen keine Rolle. Jagger pflegt den Kontakt mit dem Publikum auch zwischen den Songs. Immer wieder suggeriert er auf einstudier­t klingendem Deutsch, dass er ganz genau weiß, wo er ist. „Stuttgart – eine wundervoll­e Stadt“, sagt er, und offenbar mit Seitenhieb auf das Mammut-Bahnprojek­t Stuttgart 21: „Ich wünschte, ich wäre im Baugewerbe.“Er fragt, wer aus Schwaben kommt. Jubel erschallt. Wer aus Karlsruhe? Aus Nürnberg? Aus Ulm? Der Frontmann verortet sich und gibt dem Publikum das Gefühl, nicht einfach irgendeine Masse zu sein zwischen dem letzten Auftritt in Marseille und dem nächsten in Prag. Den noch immer wie ein Spitzbube aussehende­n Ron Wood stellt er vor als den „Meister der Kehrwoche“.

Dass unter den 19 Songs die Klassiker „Angie“und „Under My Thumb“fehlten, verzeihen die Fans nach dem zweistündi­gen Konzert. Die Stones haben schlicht ein zu großes Repertoire, um alle Hits zu spielen. Letztes Lied der Zugabe ist „Satisfacti­on“. Jagger singt darin, dass er diese „Befriedigu­ng“nie erreichen könne. Nach zwei Stunden Stones-Konzert sehen die Zuschauer das anders.

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FOTO: ROLAND RASEMANN Ermüdungse­rscheinung­en? Fehlanzeig­e bei Mick Jagger, der immer noch wie ein 20-Jähriger über die Bühne wirbelt.

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