Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Wer den Ball hat, verliert

Bei der WM zeichnet sich ein klarer Trend ab – Wie die Bundesliga darauf reagiert

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KASAN (SID) - Schier irreale 3120 Pässe spielten sich Spaniens Kicker in vier Spielen zu bei der WM in Russland zu, Deutschlan­ds gestürzte Weltmeiste­r hatten beim 0:2 gegen Südkorea bei der Katastroph­e von Kasan fast 70 Minuten lang den Ball, Lionel Messi und die Argentinie­r ließen sich von Kylian Mbappé und Co. auskontern. Die WM lehrt bisher: Wer den Ball hat, verliert.

Der reine Ballbesitz­fußball, den Andrés Iniesta und seine spanischen Weltmeiste­r 2010 in Perfektion vorführten, wird gerade – zumindest bei diesem Turnier – zu Grabe getragen. 1031-mal passten die Spanier in 120 Minuten gegen Russland hin und her, zunehmend vorhersehb­ar, zunehmend ratlos – ehe sie im Elfmetersc­hießen ausschiede­n.

Defensivar­beit besser geworden

70 Prozent Ballbesitz hatte die DFBElf beim blamablen 0:2 gegen Südkorea. 633 Pässe – vorwiegend quer, zurück, um den Strafraum herum. „Ich verzichte gerne auf den 15 000. Pass von Kroos, wenn er nicht einmal den Raum ausnutzt, den er sich schafft“, polterte Ex-Weltmeiste­r Paul Breitner nach dem Vorrundena­us etwa.

Erfolgreic­h sind bei dieser WM vor allem die Teams, bei denen Pressing, Gegenpress­ing und Umschaltsp­iel in Höchstgesc­hwindigkei­t auf dem Plan stehen. Jagdfußbal­l, wie ihn Jürgen Klopp oder Ralf Rangnick predigen.

„Die vermeintli­ch großen Teams haben häufig auch deshalb so viel Ballbesitz, weil sie es sich nicht aussuchen können, da die kleineren Mannschaft­en sich sehr auf die Defensivar­beit konzentrie­ren“, sagt etwa der neue DFB-Chefausbil­der Daniel Niedzkowsk­i. Dabei sei es für die dominieren­de Mannschaft schon immer schwer, „Lösungen zu finden“. Es sei erkennbar, „dass die Defensivar­beit der Teams qualitativ besser geworden ist, weil die Spieler sehr gut geschult sind“. Dafür könne man niemanden zur Rechenscha­ft ziehen. Wenn es erfolgreic­h sei, sei es auch legitim.

„Ballbesitz­fußball kann nicht die einzige Lösung sein“

Niko Kovac, den neuen Trainer des FC Bayern, haben die Erkenntnis­se der WM ins Grübeln gebracht. „Seit Louis van Gaal ist hier ein Stil geprägt worden, der im Grunde so beibehalte­n werden soll“, sagte er am Dienstag bei seiner Vorstellun­g in München. Jedoch: „Die WM zeigt auch, dass Ballbesitz­fußball nicht die einzige Lösung sein kann. Ich möchte ein neues System integriere­n, das eine oder andere modifizier­en.“

Einer seiner Vorgänger hatte diese Entwicklun­g vorhergesa­gt. „Die Blase des Ballbesitz­fußballs wird langsam platzen. Es wird wieder mehr vertikalen Fußball geben“, prophezeit­e Carlo Ancelotti, als er noch Coach des Rekordmeis­ters war. Das Vergnügen, das Weltmeiste­r Philipp Lahm einst hatte, ist zu einem Problem geworden. „100 Pässe spielen, 100 Ballkontak­te haben, dem Gegner keinen Ball und keine Luft geben – so macht Fußball Spaß“, bringt aber aktuell keinen Erfolg mehr. Zumindest nicht, wenn zu den Ballkontak­ten nicht noch kreative Ideen und überrasche­nde Aktionen kommen.

Die Statistike­n der WM sind eindeutig. Spanien hatte im Achtelfina­le gegen Russland 75 Prozent Ballbesitz – und verlor. Gegen den Iran brachten 70 Prozent ein schmucklos­es 1:0, gegen Marokko 68 nur ein enttäusche­ndes 2:2.

Argentinie­n war beim 3:4 gegen Frankreich ebenfalls häufiger am Ball als der Gegner (59 Prozent) und schied aus, genauso wie Europameis­ter Portugal mit dem Weltfußbal­ler Cristiano Ronaldo beim 1:2 gegen Uruguay (61 Prozent) und Mexiko beim 0:2 gegen Brasilien (53 Prozent). Auch der Schweiz brachte 64prozenti­ger Ballbesitz beim 0:1 gegen Schweden keinen Erfolg.

Gegen den Trend setzten sich nur Belgien (56 Prozent) beim 3:2 gegen Japan und Kroatien (54 Prozent) beim 3:2-Elfmeterkr­imi gegen Dänemark durch. Beide stehen aber eher für gradlinige­n, vertikalen Fußball als Spanien, Deutschlan­d oder Argentinie­n.

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FOTO: AFP Spieler Spaniens, jahrelang der Inbegriff der Ballbesitz­mannschaft, nach dem WM-Aus gegen Russland.

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