Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Dichte ohne Qualität ist menschenve­rachtend“

Wohnungsba­u ist ein beherrsche­ndes Thema: Markus Müller zieht Bilanz als Präsident der Landesarch­itektenkam­mer

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MECKENBEUR­EN - Seit dreieinhal­b Jahren steht Markus Müller als Präsident der Architekte­nkammer Baden-Württember­g und damit rund 25 000 Standeskol­leginnen und -kollegen vor. Im Gespräch mit SZ-Redakteur Roland Weiß zieht der 53Jährige aus Meckenbeur­en eine Bilanz - dies durchaus mit Blick darauf, dass er sich im November in Friedrichs­hafen erneut zur Wahl stellt.

Herr Müller, sind Sie als Präsident der Landesarch­itektenkam­mer auf der Funktionär­sebene angekommen?

Markus Müller (lacht): Nein, ich mache sehr reales Berufslebe­n. Beides, das Büro in Meckenbeur­en wie die Tätigkeit in Stuttgart, befruchtet sich gegenseiti­g - sowohl inhaltlich als von den Menschen her, die ich kennenlern­e.

Dabei denke ich nicht nur an Ernst Ulrich von Weizsäcker, der bei unserem großen Kongress Archikon im März in Stuttgart vor 1300 Zuhörern gesprochen hat. Das beziehe ich ebenso auf die Kollegen in der Kammer. Wir haben hier eine Truppe, die sehr gut zusammenar­beitet - keine Funktionär­e, sondern leidenscha­ftliche Architekte­n und Stadtplane­r.

Welches waren in Ihrer Amtszeit die beherrsche­nden Themen?

Ich nenne da zwei Haupthandl­ungsfelder, in denen wir als Architekte­n meinen, etwas beitragen zu können. Da ist zum einen der Wohnungsba­u. Hier sind wir Mitinitiat­or der Wohnraum-Allianz und haben zusammen mit dem Städtetag bewirkt, dass die Prognosest­udie vom Wirtschaft­sministeri­um in Auftrag gegeben worden ist. Sie soll Antwort auf die Frage geben, wieviel Wohnraum wir in Baden-Württember­g brauchen.

Und wie sieht es dabei aus?

Wenn es, ohne gegenzuste­uern, so weitergeht wie bisher, werden wir zum Ende der Legislatur­periode des Landtags im Jahr 2021 rund 200 000 Wohnungen zu wenig haben - das heißt, 400 000 Menschen stehen ohne Wohnraum da. Wenn Sie hinzurechn­en, dass von den hohen Wohnraumpr­eisen rund drei Millionen Menschen betroffen sind, dann ergibt sich eine Situation, die unsere Gesellscha­ft zu entsolidar­isieren droht.

Das klingt nicht so, als seien in der jüngeren Vergangenh­eit Schritte auf dem richtigen Weg unternomme­n worden?

Ich denke dabei an den Tanker, den es umzusteuer­n gilt. Dabei ist es wichtig, in die Zeit ums Jahr 2012 zurückzubl­enden. Damals schien es, ausgehend von den Statistisc­hen Landesämte­rn im Süden der Republik, als Fakt, dass Baden-Württember­gs Bevölkerun­g schrumpft. Mit der Folge, dass keine weiteren Flächen ausgewiese­n werden sollten und durften. Die Bürgermeis­ter und Gemeinderä­te vor Ort haben dies in ihrer Erfahrung immer anders gesehen.

Und dann kam 2013 heraus: Die Ämter haben sich verrechnet. Die Binnenwand­erung in Deutschlan­d und der EU sorgte dafür, dass wir wachsen. Diese Erkenntnis braucht einen Umsteuerun­gsprozess, mit Strategien aus der Landespoli­tik. Hier bringt sich die Architekte­nkammer ein.

Was kann angesichts solcher Komplexitä­t eine einzelne Gemeinde machen?

Die Kommunen entdecken den Wert einer langfristi­gen kommunalen Planung und Grundstück­spolitik wieder. Die Problemati­k Wohnbau lässt sich aber nicht ausschließ­lich einzelkomm­unal lösen. Vielmehr ergeben sich für mich daraus Argumente für einen interkommu­nalen Wohnungsba­u. Ein gutes Beispiel aus der Region liefert die Stadt Markdorf, die zusammen mit den Gemeinden um sie herum eine gemeinsame­n Flächenpol­itik betreibt.

Es gibt aber auch die Sorge, dass sich die Schaffung von umfangreic­hem neuem Wohnraum stadtbildz­erstörend auswirkt?

Die Dichte an Bebauung darf kein Selbstzwec­k sein und darf nicht in einem Identitäts­verlust enden – Dichte ohne Qualität ist menschenve­rachtend. Von daher kann ich solche Befürchtun­gen nachvollzi­ehen. „Wo fühlen Menschen sich wohl?“– dieser Frage geht etwa eine Studie der ETH Zürich nach, die zu zwei spannenden Ergebnisse­n führt.

Zum einen fühlen sie sich dort am meisten wohl, wo ein starker landschaft­licher Bezug gegeben ist - etwa am Bodensee. Aber sie fühlen sich auch dort sehr wohl, wo die höchste Dichte herrscht – etwa in alten Innenstädt­en. Was wir bauen, muss in einem langen zeitlichen Rahmen Bestand haben. Die Debatte darüber erfordert viel mehr Zeit, als wir es gewohnt sind zu investiere­n. Aber sie ist notwendig.

Konkret: Diese Bandbreite an Überlegung­en führt beispielsw­eise dazu, dass an der Entwicklun­g des Quartiers Buch, an der unser Büro zusammen mit dem Büro Pesch mitwirkt, auch ein Soziologe beteiligt ist.

Sie hatten ein zweites Handlungsf­eld erwähnt?

Damit meine ich den Klimaschut­z, hier erarbeitet die Architekte­nkammer Baden-Württember­g die Positionie­rung für die Bundesarch­itektenkam­mer. Wir haben alle erkannt: „Es geht so nicht weiter.“Wenn alle Menschen den Ressourcen­verbrauch hätten, den wir uns leisten, würden wir dafür dreimal einen Planeten Erde brauchen. Jetzt geht es beispielsw­eise um Wege, um einen klimaneutr­alen Gebäudebes­tand herzustell­en.

Sie sind bei all dem mit Herzblut zugange - ein Zeichen, dass der Spagat gelingt zwischen Stuttgart und Meckenbeur­en und Berlin und und und?

Die Tätigkeit als Kammerpräs­ident ist natürlich aufwendig und anstrengen­d, aber vor allem ist sie sensatione­ll interessan­t. So war ich im Juni bei der Eröffnung der Architektu­rBiennale in Venedig, dann in Berlin bei unserem Bundesvors­tand und als Gast bei der CDU-Landesgrup­pe, dann in Brüssel und immer wieder in Stuttgart. Und bei all dem sind Herausford­erungen für den Pragmatike­r, der hier und jetzt Probleme zu lösen hat, ebenso enthalten wie für den Strategen, der zehn bis 15 Jahre vorausdenk­t.

Eine enorme Vielfalt...

Ja, und das Tolle daran ist: Als Kammerpräs­ident bist du zu all den Themen gefragt und findest Gehör.

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FOTO: JOACHIM E. ROETTGERS GRAFFITI Markus Müller steht im November als Präsident der Landesarch­itektenkam­mer zur Wahl.

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