Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Spiel ohne Grenzen
„Hunger“: Theatermarathon von Frank Castorf nach Knut Hamsun bei Salzburger Festspielen
HALLEIN - Kunst muss weh tun: Der Regisseur Frank Castorf testet gerne die Grenzen der Belastbarkeit aus – bei seinem Ensemble und bei seinem Publikum. „Hunger“, die Collage aus zwei Romanen von Knut Hamsun, gerät ihm zum sechsstündigen Theatermarathon. Viele Premierenbesucher gönnten sich höchstens die Hälfte. Das Knarzen der Treppen war die Begleitmusik des Abends. Die, die am Schluss noch da waren, feierten die erschöpften Akteure auf der Bühne. Und den Meister.
Es ist ein typischer CastorfAbend, dort in der heißen ehemaligen Saline in Hallein: ausufernd, voller Assoziationen, Redundanzen, Repetitionen, Abwegen, um dann aber doch immer wieder packende, gelungene Momente zu erschaffen. Castorf selbst spricht von einem „Transformationsraum, der es ermöglicht, in dieser Welt alles zu behaupten, und zwar so, dass es irgendwann zumindest zu einer künstlerischen Wahrheit wird“.
Dieses Mal sucht er sie in einer Collage aus zwei Romanen von Knut Hamsun: „Hunger“, erschienen 1890, und dem zwei Jahre später entstandenen „Mysterien“. Es sind Texte mit autobiografischen Spuren. Wie dem Protagonisten in „Hunger“erging es Hamsun selbst. Er versuchte als Schriftsteller sein Glück in Kristiania, heute Oslo. Ab und zu verkaufte er der Zeitung einen Artikel, eine Geschichte. Aber das reichte nicht zum Leben. Hamsun musste Brotjobs annehmen, wanderte kurzzeitig nach Amerika aus, arbeitete in Chicago als Straßenbahnschaffner.
Erst „Hunger“, jene Geschichte, die nur davon handelt, wie ein freier Journalist und Künstler immer verzweifelter auf der Suche nach Nahrung in der Stadt umherzieht, brachte ihm den Durchbruch. Da war er Anfang 30. Hamsun erzählt von den Halluzinationen und Wahnsinnsfantasien des Hungernden, der sich immer noch einredet, zu der Gesellschaft zu gehören, die ihn ausgespuckt hat. In „Mysterien“steht ein reicher Fremder den Bürgern gegenüber. Auch dieser Mann namens Nagel streift durch die Stadt, mit Geigenkasten und knallgelbem Anzug. Aber er ist ein aggressiver Flaneur, ein böser Clown. Der Hungernde heuert am Ende auf einem Schiff an. Der Reiche bringt sich um.
Verweise auf die NS-Zeit
Knut Hamsun und sein Werk, das um 1900 von seinen europäischen Schriftstellerkollegen bewundert wurde, ist heute nicht mehr so bekannt. Der Grund: Der Nobelpreisträger von 1920 war ein früher und glühender Anhänger der Nationalsozialisten. Er musste von den Nazis nicht überzeugt werden, er war ihr Gefolgsmann von Anfang an. Es gibt zahlreiche Zeugnisse seiner Weltanschauung. Briefe und Artikel, in denen er den Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky verhöhnte, die Judenverfolgung und die Konzentrationslager rechtfertigte und zur Wahl des norwegischen Nationalsozialisten Vidkun Quisling aufrief. 1943 empfing ihn Hitler auf dem Obersalzberg.
Castorf und sein Dramaturg Carl Hegemann überblenden die literarischen Texte mit Verweisen auf den Nationalsozialismus. Hamsuns Ankunft in Deutschland dokumentiert ein Ausschnitt aus der Wochenschau. Und gleich zu Beginn stürmt ein Schauspieler mit lauten „Swastika! Swastika!“-Rufen auf die Bühne. NS-Embleme sind überall präsent: in einer Carlsberg-Reklame, auf einem Plakat, mit dem die norwegischen Streitkräfte Rekruten warben. Aleksandar Denics Drehbühne bietet mehrere Spielorte: Auf der einen Seite ist sie eine Holzhütte, in der sich die armselige Bude des Hungerkünstlers befindet, auf der anderen Seite ein McDonald-Restaurant. Kapitalismuskritik! Wir haben verstanden. Im Sozialismus gab es ja keinen Hunger.
Ähnlich banal sind eine Reihe von Zwischenszenen: Eine Pommestüte (Josef Ostendorf) und ein Würstchen (Rocco Mylord) unterhalten sich über „die Großen der Geschichte“; zwei Damen (Sophie Rois und Kathrin Angerer) spulen die deutsche Wirtschaftswunderverdrängungslitanei ab oder fantasieren über die Verzweiflung des Selbstmörders, dass er seine Zeitungsabos noch nicht gekündigt hat. Lars Rudolph ist der schmierige Neureiche und Menschenverächter, der eine Frau (Lilith Stangenberg), vielleicht seine Ex-Geliebte, mit Verachtung straft, indem er ihr mit einer Trompete ins Ohr bläst. Und Daniel Zillmann chargiert so kraftvoll mit seiner ganzen Körperfülle, dass ihm als erstes die Hose platzt.
Immer neue Varianten
Je länger der Abend dauert, desto nerviger wird solches Beiwerk. Uferlos, ein Spiel ohne Grenzen, immer neue Anläufe, immer neue Varianten der ein- und derselben Geschichte. Viele Szenen spielen für das Publikum unsichtbar im Bühnenhintergrund. Sie werden per Video live aufgenommen und auf das Bühnenbild projiziert. So kann man den Akteuren ins Gesicht sehen. Jeder schlüpft mal in diese, mal in jene Rolle. Selbst in den Dialogen wechseln die Perspektiven. Eine Herausforderung, die dieses Volksbühnen-gestählten Ensemble mit Bravour meistert.
Der Stärkste freilich ist Marc Hosemann. Wie er den immer rascher in den Abgrund taumelnden Hungerkünstler darstellt, wie er dessen Fieberfantasien und Wahnvorstellungen wahr werden lässt, wie er schwitzend und blutend und keuchend den Text aus sich herausschält-, brüllt, -stammelt – das ist dann doch großartige Theaterkunst.
Weitere Aufführungen auf der Perner-Insel Hallein sind bis zum 20. August zu sehen. Spieltermine und Karten gibt es unter www.salzburgerfestspiele.at