Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Was sich zum neuen Schuljahr ändert
Neuerungen für mehr als 1,5 Millionen Schülerinnen und Schüler
STUTTGART (lsw) - Mehr als 1,5 Millionen Schüler im Land stehen vor einem neuen Schuljahr. Folgende Neuerungen kommen auf sie zu:
Sprachen später lernen: Der ● Start der Fremdsprache wird auf Klasse 3 verschoben, um nach dem enttäuschenden Abschneiden von baden-württembergischen Schülern in Vergleichsstudien den Fächern Deutsch und Mathe mehr Zeit zu geben. Gymnasiale Oberstufen an Gemeinschaftsschulen: ● Die ersten zwei Oberstufen an Gemeinschaftsschulen starten in Konstanz und Tübingen. Bislang gehen die Gemeinschaftsschulen im Land nur bis zur zehnten Klasse. Ein Rahmen für Rechtschreibung: ● Eine von Pädagogen konzipierte Handreichung soll Lehrer der Klassen 1 bis 10 dabei unterstützen, die Regeln zu vermitteln.
Mehr Föderung für Flüchtlinge:
Junge Flüchtlinge sollen zusätzliche Sprachförderung in den Regelklassen erhalten. Für die Geflohenen gibt es außerdem zielgruppenspezifische Angebote und etwa zusätzliche Stunden in den Vorbereitungsklassen. Grund für das Plus an Förderung sind die unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen der Flüchtlinge.
Mehr Informatikunterricht: Bislang ● besuchten nur Schüler der allgemeinbildenden Gymnasien ab Klasse sieben den Aufbaukurs Informatik. Nun wird das Pflichtfach auf weiterführende Schulen ausgedehnt.
Neues Technikfach: An 66 Gymnasien ● mit naturwissenschaftlichem Profil startet das Fach Informatik – Mathematik – Physik (IMP). Es ermöglicht Schülern im Anschluss an den Aufbaukurs Informatik, sich vertieft mit Informatik, Mathematik und Physik auseinanderzusetzen. Wirtschaft an Gymnasien: Bei ● dem Fach „Wirtschaft/Berufs- und Studienorientierung“waren die Siebtklässler der Werkrealschulen, Realschulen und Gemeinschaftsschulen Pioniere. Nun startet das Fach auch an den Gymnasien – beginnend mit Klasse 8.
RAVENSBURG - Für die Schüler der Klasse 8 an Baden-Württembergs Gymnasien beginnt das Schuljahr mit einer Neuheit. Im einstündigen Fach „Wirtschaft/Berufs- und Studienorientierung“(kurz WBS) sollen sie Wirtschaftskreisläufe kennenlernen, auf die Berufswahl vorbereitet, aber auch zu kritischen Konsumenten erzogen werden.
Achim Krämer freut sich auf diese Aufgabe. Der Lehrer und Unterstufenkoordinator am Hans-MultscherGymnasium in Leutkirch im Allgäu unterrichtet ab kommender Woche WBS. Gemeinsam mit Kollegen hat er Fortbildungen besucht, inzwischen gibt es Wirtschaft auch als Studienfach für Lehrer. „Es geht darum, dass die Schüler am Ende mündige, aber auch kritische Wirtschaftsbürger sind“, sagt er.
Baden-Württemberg ist eines der wenigen Bundesländer, die Wirtschaft bereits in der gymnasialen Unterstufe anbieten. In Bayern gibt es mit dem Fach „Wirtschaft und Recht“bereits ein ähnliches Konzept – allerdings erst ab ab Klasse 9. Nordrhein-Westfalen hat angekündigt, den baden-württembergischen Weg einzuschlagen. In Mecklenburg-Vorpommern oder etwa in Hessen bleibt das Fach der Oberstufe vorbehalten.
Wirtschaft ist zufrieden
Der baden-württembergische IHKChef Wolfgang Grenke begrüßt die Neuerung. Er erwartet die Schulung von wichtigen Kompetenzen für den Arbeitsmarkt: „Erst in Ausbildung oder Studium notwendige Grundlagen zu erlernen, ist aus Sicht unserer Betriebe zu spät.“Bisher habe es hier Defizite gegeben. „Gerade die Chancen und Möglichkeiten einer dualen Karriere mit Aus- und Weiterbildung als Alternative zum Studium wurden nicht stark genug thematisiert. Schließlich haben Lehrkräfte selbst studiert und selten eine duale Ausbildung als Grundlage, die sie weitertragen könnten“, sagt Grenke.
Das baden-württembergische Kultusministerium hat im Bildungsplan 2016 ein dreistufiges System vorgesehen. Ziel sei, die Schüler „zu befähigen, ökonomisch geprägte Lebenssituationen zu erkennen, zu bewältigen und zu gestalten.“
Achim Krämer vom Leutkircher Gymnasium erklärt das so: „In der 8. Klasse sollen die Schüler lernen, wie sie sich als Konsument verhalten können. Es geht um sie selbst und ihr Verhalten.“In Klasse 9 stehe dann die Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Unternehmer im Vordergrund. Leitfrage: „Welche Auswirkungen hat das eigene Wirtschaften auf andere?“Im Jahr darauf richte sich der Fokus auf die globale Perspektive. „Da werden Dinge wie die Weltwirtschaft angesprochen und Konzepte wie fairer Handel beleuchtet“, erläutert Krämer. In der Oberstufe können Schüler das Fach Wirtschaft wie bisher vierstündig als Neigungsfach wählen.
In Real- oder Werkschulen gibt es WBS bereits seit dem vergangenen Schuljahr ab Klasse 7. Krämer ist überzeugt, dass auch am Gymnasium die Zeit reif war. Bisher konnte es passieren, dass ein Schüler „relativ unbefleckt“von Wirtschaftswissen das Abitur macht. „Aspekte der Wirtschaft sind traditionell in den Fächern Gemeinschaftskunde oder Geographie abgehandelt worden – je nach Lehrer mal mehr, mal weniger intensiv.“
Wolfgang Grupp, Geschäftsführer beim Textilunternehmen Trigema, ist zuversichtlich, dass das jetzt besser wird: „Wenn Schüler Einblick in Wirtschaftsthemen bekommen, kann das nicht schlecht sein. Gerade was einen möglichen Berufsweg betrifft.“Er wolle keine Forderungen stellen, vertraue aber darauf, dass die Experten in Schulen und Kultusministerien „erkennen, wenn ein Wandel stattfindet.“
Für ein eigenes Fach hat sich die Stuttgarter Initiative „Wirtschaft verstehen lernen“der Dieter von Holtzbrinck Stiftung lange eingesetzt. Entsprechend froh ist Leiterin und ehemalige Rektorin des Internats Salem, Eva Marie Haberfellner: „Das Fach ist dringend nötig, weil das Thema finanzielle Bildung bisher überhaupt nicht stattfand.“
Forderung nach Evaluation
Es gibt aber auch mahnende Stimmen: Matthias Schneider vom baden-württembergischen Landesverband der Gewerkschaft für Erziehung und Wissen (GEW) befürchtet, dass „sich die Inhalte zu sehr am Kanon der Wirtschaftsverbände ausrichten.“Zudem drohe die Vernachlässigung von Fächern wie Sozialkunde. Vom Kultusministerium erwartet er deshalb in den nächsten Jahren eine Evaluation über Nutzen und Inhalte des Fachs.