Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Schwedens Sozialdemo­kraten trotz hoher Verluste vorn

Einwanderu­ngskritisc­he Schwedende­mokraten legen stark zu und werden womöglich Zünglein an der Waage

- Von Andre Anwar

STOCKHOLM - Noch nie lagen die Nerven vor einer Parlaments­wahl in Schweden so blank wie dieses Mal. Die Sozialdemo­kraten von Ministerpr­äsident Stefan Löfven, die bislang mit den Grünen in der Minderheit regierten, erzielten laut ersten Hochrechnu­ngen des Senders SVT um 20 Uhr mit 26,2 Prozent (-4,8) das historisch schlechtes­te Ergebnis seit Einführung des proportion­alen Wahlsystem­s 1911. Sie blieben aber, anders als ein Teil der Umfragen bis zuletzt vorausgesa­gt hatte, die stärkste Partei.

Mit 19,2 Prozent (+6,3) erzielten die einwanderu­ngskritisc­hen Schwedende­mokraten (SD) mehr Stimmen als die größte bürgerlich­e Partei Moderatern­a, sie sind damit erstmals die zweitstärk­ste Kraft im Land. Doch ihr Ergebnis lag unter den Umfragewer­ten einiger Institute, die sie eher im Bereich von 25 Prozent gesehen hatten. Zum dritten Mal seit ihrem Einzug ins Parlament 2010 ist die von Neonazis 1988 mitbegründ­ete und inzwischen gemäßigt auftretend­e Partei damit das Zünglein an der Waage zwischen linkem und konservati­vem Parteienla­ger.

SD erwarten Gesprächsa­ngebote

„Wir sind profession­eller geworden und die gesellscha­ftlichen Probleme, die wir ansprechen, sind größer geworden“erklärte SD-Sprecher Mattias Karlsson den Erfolg. „Ich hoffe, dass die Bürgerlich­en nun endlich aus ihrer Sandkiste kommen und mit uns reden“, sagte er. So viele Wähler könne man bei der Regierungs­bildung nicht einfach ignorieren.

Das linke Dreipartei­enlager besteht neben den Sozialdemo­kraten, aus den Grünen, die ersten Hochrechnu­ngen zufolge auf 4,2 Prozent (-2,7) kamen und wegen der VierProzen­t-Hürde noch um den Einzug ins Parlament zittern mussten, und aus der Linksparte­i, die ihren Stimmenant­eil deutlich auf 9 Prozent (+3,3) steigerte. Zusammen stellen die drei Linksparte­ien 39,4 Prozent.

Die bürgerlich­e Vierpartei­enallianz von Spitzenkan­didat Ulf Kristersso­n liegt zumindest in den ersten Hochrechnu­ngen leicht darüber mit 39,6 Prozent. Das kann sich im Laufe der Auszählung allerdings noch ändern. Auch Kristersso­ns liberalkon­servative Moderatern­a fahren dabei mit 17,8 Prozent (-5,5) ein historisch schlechtes Wahlergebn­is ein. Seine drei Bündnispar­tner steigerten sich: Das soziallibe­rale Zentrum kam auf 8,9 Prozent (+2,8), die sozialkons­ervativen Christdemo­kraten auf 7,4 Prozent (+2,8) und die Liberalen kamen auf 5,5 Prozent (+0,1).

Innerhalb beider Blöcke gab es damit eine Verschiebu­ng nach links. Um Wähler von der rechtspopu­listischen SD zurückzuge­winnen, hatten sowohl Sozialdemo­kraten als auch Moderatern­a einwanderu­ngskritisc­he Positionen vertreten. Das hat Teile der Stammwähle­rschaft der beiden großen Parteien offenbar irritiert.

Unklar bleibt, wie die traditione­llen Parteienbü­ndnisse nun mit den erstarkten SD umgehen. Bislang weigerten sich die bürgerlich­en Parteien, erneut eine rot-grüne Minderheit­sregierung zu dulden oder mit ihr eine Regierung zu bilden, trotz Annäherung­sversuchen von Premier Löfven. Gleichzeit­ig hatten alle Parteien eine Regierungs­beteiligun­g der SD ausgeschlo­ssen. Möglich wäre, dass Teile des bürgerlich­en Lagers sich nach der Wahl doch bewegen und die von Grünen und Linksparte­i gestützten Sozialdemo­kraten tolerieren.

Auch könnten die Moderatern­a allein eine Minderheit­sregierung anstreben, die dann neben den drei anderen bürgerlich­en Parteien auch von der SD gestützt wird. Das wäre eine politische Zäsur. Die Moderatern­a haben, im Gegensatz zu Liberalen und Zentrum, eine mögliche Unterstütz­ung durch die SD nicht gänzlich ausgeschlo­ssen.

Kurswechse­l Ende 2015

Im Wahlkampf hatten die SD durch ihre hohen Umfragewer­te die Themenfeld­er Einwanderu­ng und Kriminalit­ät acht Monate lang in die Mitte der Debatte gerückt. „Öffnet eure Herzen“, hatte der bürgerlich­e Regierungs­chef Fredrik Reinfeldt mit Blick auf die Integratio­n von Flüchtling­en vor seiner Abwahl 2014 noch gesagt – das war die schwedisch­e Variante von „wir schaffen das“. Auch Rot-Grün setzte die Politik der offenen Grenzen zunächst fort. 160 000 Flüchtling­e kamen 2015. Kein anderes europäisch­es Land hat relativ zur seiner Bevölkerun­gszahl so viele Menschen aufgenomme­n.

Ende 2015 vollzog Rot-Grün einen Kurswechse­l und schloss die Grenzen weitgehend. Die SD waren zuvor lange die einzige Partei gewesen, die Einwanderu­ng und Missstände bei der Integratio­n kritisiert hatte. Am Rande der schwedisch­en Großstädte waren über einen langen Zeitraum Wohnvierte­l entstanden, in denen überwiegen­d Migranten leben – dort sind Armut, Arbeitslos­igkeit und Kriminalit­ätsrate im Vergleich zum Rest des Landes hoch.

Dichte Grenzen, mehr Polizisten

Sozialdemo­kraten und Liberalkon­servative versprache­n nun im Wahlkampf, die Grenzen weiterhin dichtzuhal­ten und mehr Polizisten einzustell­en. „Schweden hatte in den letzten 15 Jahren eine großzügige Einwanderu­ngspolitik. Die ist radikal gewesen, im Vergleich zu allen anderen Ländern in Europa und hat viele Bürger im zuvor sehr homogenen Land beunruhigt. Heute sind 18 Prozent der Einwohner im Ausland geboren, wenn man die mit ausländisc­hen Eltern hinzuzählt, sind es 24 Prozent. Lange sagten nur die SD stopp dazu“, erklärt Nicholas Aylott, Politikpro­fessor an der Stockholme­r Hochschule Södertörn.

In den letzten Wochen vor der Wahl wurden dann aber vermehrt Wohlfahrts­fragen thematisie­rt. Die seit der Ermordung von Premier Olof Palme 1986 immer mehr vom rechten Parteiflüg­el dominierte­n Sozialdemo­kraten haben am Sonntag wohl auch wegen ihrer zuletzt rigiden Haushaltsp­olitik Stimmen eingebüßt. Statt den Wohlfahrts­staat zu sanieren, der seit den 1990er-Jahren aufgrund ihrer eigenen Sparpoliti­k bröckelt, hat die Partei Haushaltsü­berschüsse verwendet, um die Staatsschu­lden um 450 Milliarden Kronen (46,4 Milliarden Euro) auf den niedrigste­n Stand seit 40 Jahren zu verringern.

 ?? FOTO: DPA ?? Die schwedisch­en Sozialdemo­kraten von Ministerpr­äsident Stefan Löfven (Mitte, mit seiner Frau Ulla) haben deutlich an Zustimmung verloren, ihren Platz als stärkste politische Kraft aber verteidigt.
FOTO: DPA Die schwedisch­en Sozialdemo­kraten von Ministerpr­äsident Stefan Löfven (Mitte, mit seiner Frau Ulla) haben deutlich an Zustimmung verloren, ihren Platz als stärkste politische Kraft aber verteidigt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany