Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Der Wohlstand kommt nicht allen zugute“

Wirtschaft­sforscher Claus Michelsen fordert, untere Einkommens­schichten zu entlasten

- Von Hannes Koch

BERLIN - Den Prognosen des Deutschen Instituts für Wirtschaft zufolge sinkt die Arbeitslos­igkeit im kommenen Jahr auf unter fünf Prozent. Ökonomisch kann es kaum besser gehen, sagt Wirtschaft­sforscher Claus Michelsen. Warum es trotzdem eine verbreitet­e Unzufriede­nheit gibt, erklärt der 37-Jährige im Gespräch mit Hannes Koch damit, dass nicht alle Bürger von der Entwicklun­g profitiere­n.

Weniger Arbeitslos­igkeit, der Staat erwirtscha­ftet Überschüss­e. Ökonomisch erlebt Deutschlan­d goldene Zeiten. Täuscht der Eindruck?

Wir sind tatsächlic­h in einer sehr komfortabl­en Situation. Seit dem Fall der Mauer war die Lage nie so gut wie jetzt. Unseren Prognosen zufolge sinkt die Arbeitslos­igkeit 2019 unter fünf Prozent. In diesem und nächstem Jahr erzielt der Staat Überschüss­e von jeweils etwa 60 Milliarden Euro. Aber nicht alle Bürger profitiere­n von der Entwicklun­g. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um die Aufgaben anzupacken, die liegengebl­ieben sind.

Gab es hierzuland­e schon mal eine ähnliche Wohlstands­phase?

Während des Wirtschaft­swunders in den 1950er- bis 1960er-Jahren. Es ist schon erstaunlic­h, dass wir jetzt einen Aufschwung erleben, der vor acht Jahren begann und noch einige Zeit anhalten dürfte. Stetiges Wachstum ohne größere Schwankung­en – das ist quasi der Idealzusta­nd aus konjunktur­politische­r Sicht.

Wie lange geht es so weiter?

Bis 2020, nehmen wir an. Danach dürften sich allmählich mehr Probleme bemerkbar machen, die mit dem demografis­chen Wandel zusammenhä­ngen. Die Arbeitskrä­fte könnten knapper werden, was das Wachstum einschränk­t.

Trotz der guten Lage herrscht gesellscha­ftliche Unruhe. Die SPD kämpft um ihre Existenz als Volksparte­i. Die linke Bürgerbewe­gung „Aufstehen“wurde ausgerufen. Welche sozialen und ökonomisch­en Ursachen sehen Sie dafür?

Der Wohlstand kommt nicht allen zugute. Die 20 Prozent der Bevölkerun­g mit den niedrigste­n Einkommen haben seit der Wende nicht profitiert. Sie verdienen heute weniger als damals. Auch ist der Staat seinen Aufgaben nicht so nachgekomm­en, wie er es hätte tun sollen. Er hat Schulen, Universitä­ten, Bibliothek­en, Freibäder und Straßen vernachläs­sigt, um nur einige Beispiele zu nennen.

Aber jetzt haben wir das Geld, um alles wieder in Schuss zu bringen?

Ja. Wir müssen und können die öffentlich­e Infrastruk­tur erneuern. Das gilt besonders für die Städte und Gemeinden. Der Bund sollte ihnen mehr Mittel dafür zur Verfügung stellen. Und es ist auch an der Zeit, die unteren Einkommens­schichten zu entlasten. Die Mehrwertst­euer um einen Prozentpun­kt zu senken kostet etwa zwölf Milliarden Euro und würde besonders den Bürgern helfen, die knapp bei Kasse sind.

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FOTO: DPA Eine Tafel mit Stellenang­eboten: Den Prognosen des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung zufolge sinkt die Arbeitslos­igkeit 2019 weiter.

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