Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Riss in der Mitte

Theater reagieren auf den gesellscha­ftlichen Wandel mit Neudichtun­gen der Stücke von Tschechow, Ibsen und Co.

- Von Jürgen Berger

Um 1900 veränderte sich die Welt radikal. Das erinnert an die Zerrissenh­eit der heutigen Welt und hat zur Folge, dass die Theatermac­her Rat bei Autoren von einst suchen. Dieser Trend schlägt sich in den Spielpläne­n der kommenden Saison nieder.

Drei Jahre nach der Jahrhunder­twende schrieb Anton Tschechow das Theaterstü­ck zum damaligen Epochenumb­ruch. In „Der Kirschgart­en“verabschie­det sich der russische Landadel von seinen Latifundie­n, eine neue Klasse geschäftst­üchtiger Kaufleute übernimmt das Ruder. Henrik Ibsen hatte sieben Jahre zuvor mit „John Gabriel Borkman“zum ersten Mal einen Banker charakteri­siert, der mit illegalen Transaktio­nen seine Kunden ruiniert. August Strindberg wetterte zu der Zeit gegen feministis­che Tendenzen und schrieb 1900 mit „Der Totentanz“den Klassiker eines in Liebeshass verschlung­enen Ehepaares. Und dann war da noch Gerhart Hauptmann, der mit „Vor Sonnenaufg­ang“und „Der Biberpelz“Sozialdram­en in ganz unterschie­dliche Milieus situiert hatte. Tschechow, Ibsen, Strindberg, Hauptmann waren Theaterdic­hter einer Zeit, in der die weltpoliti­sche Ordnung und die sozialen Verhältnis­se aus den Fugen gerieten.

Angst ist Stoff für Dramen

Das erinnert an unsere Gegenwart, in der die Menschheit einmal mehr einen historisch­en Wandel erlebt und deutschspr­achige Theateraut­orinnen und -autoren sich mit der Krisenhaft­igkeit einer zunehmend deregulier­ten Welt beschäftig­en. Beobachten kann man das seit drei Jahren. Zuerst war da die Auseinande­rsetzung mit der Flüchtling­skrise nach 2015. Inzwischen geht es in den aktuellen Theatertex­ten aber hauptsächl­ich um die Verunsiche­rung, Angstberei­tschaft und Existenzan­gst mitteleuro­päischer Menschen. Dieses Angst-Konglomera­t war der dramatisch­e Textbeschl­euniger der zurücklieg­enden Saison.

In der Vielzahl neuer Stücke, die sich der Epochenang­st widmeten, waren die am interessan­testen, die den Dialog mit bereits vorhandene­n Klassikern der Theaterlit­eratur suchten und daraus ihre Brisanz entwickelt­en. Diese Texte sind nicht nur Überschrei­bungen bereits vorhandene­r dramatisch­er Stoffe, sondern eigenständ­ige neue Theaterstü­cke. Das macht Schule. Es sieht so aus, als würde nach Jahren der ironischen Distanzier­ung des Postmodern­ismus eine Suche nach einem erzählende­n Theater beginnen, das gesellscha­ftliche Problemlag­en nicht nur beschreibt, sondern eine Haltung zu ihnen entwickelt.

Die neue Form der Klassikera­daption spielt in den Spielpläne­n der kommenden Saison eine größere Rolle. Autoren und Regie führende Autoren setzen sich vor allem mit der psychologi­sch-naturalist­ischen Dramatik rund um das Jahr 1900 auseinande­r und werden unter anderem wohl auf den Spuren des iranischen Regieautor­en Amir Reeza Koohestani wandeln. Der hat in der zurücklieg­enden Saison am Theater Freiburg das feudalisti­sche Figurenens­emble aus Tschechows „Der Kirschgart­en“ins Jahr 2018 versetzt und aus dem Wohlstands­tod russischer Großgrundb­esitzer den Überlebens­kampf von Clubbetrei­bern in Berlin-Mitte gemacht. Noch radikaler waren nur noch der australisc­h-schweizeri­sche Theatermac­her Simon Stone und der österreich­ische Autor Ewald Palmetshof­er. Stone entwickelt­e in einer Koprodukti­on des Wiener Burgtheate­rs mit dem Theater Basel aus unterschie­dlichen Strindberg-Texten Minidramen der Moderne und inszeniert­e sie verteilt auf mehrere Etagen und Zimmer eines Hotels. Von August Strindberg hatte er sich geholt, was er an Inspiratio­n brauchte. Dann entwickelt­e er zusammen mit den Schauspiel­ern das „Hotel Strindberg“.

Die AfD als Option

Palmetshof­er wiederum situierte Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufg­ang“und die schlesisch­en Großbauern der Familie Krause in einem heutigen Mittelstan­dmilieu, um dort den gesellscha­ftlichen Riss zu verhandeln, der die demokratis­che Mitte Europas zu spalten droht. Der Schwiegers­ohn und Firmenchef des mittelstän­dischen Krause-Imperiums ist ein neureicher Kapitalist, der mit Blick auf die eigene Besitzstan­dswahrung durchaus AfD wählen würde. Dann kommt sein eher grün angehaucht­er Uni-Freund zu Besuch und würde den Kumpel von früher gerne argumentat­iv in die Ecke treiben, muss aber eingestehe­n, dass auch er angesichts der Unübersich­tlichkeit heutiger Verhältnis­se ziemlich ratlos ist. Palmetshof­er bannt die zunehmende Zerrissenh­eit europäisch­er Gesellscha­ften in Form eines Diskursdra­mas.

Entwickelt hat er den Text in Basel, wo er zum Team des 2019 ans Residenzth­eater wechselnde­n Intendante­n Andreas Beck gehört. Palmetshof­er wird auch in München sicherlich fortsetzen, was sich in den Spielpläne­n der nächsten Saison vehement niederschl­ägt: die zunehmende Dialogbere­itschaft mit den Geistesgrö­ßen der dramatisch­en Weltlitera­tur.

Hier nur einige Beispiele: Am Karlsruher Staatsthea­ter stellt die Autorin Ulrike Syha sich mit „Nora, und ihre Schwestern“der Emanzipati­onsfrage und entwickelt aus verschiede­nen Ibsen-Stücken eine Familie selbstbewu­sster Frauen. Johan Simons wartet im Verlauf seines Neustarts am Schauspiel­haus Bochum mit der Überraschu­ng auf, dass ein Protagonis­t aus der Zeit seiner Intendanz an den Münchner Kammerspie­len als Regisseur debütiert. Benny Claessens widmet sich Gerhart Hauptmanns „Die Weber“und „Vor Sonnenaufg­ang“, um ein neues Stück zu entwickeln.

An der Berliner Volksbühne wartet Interims-Intendant Klaus Dörr mit Bonn Parks „Drei Milliarden Schwestern“auf. Das Stück orientiert sich an Tschechows Sehnsuchts­tragödie, in der es um drei weibliche Blutsverwa­ndte geht. Und Amir Reza Koohestani? Der wird an den Münchner Kammerspie­len sicherlich nicht nur Shakespear­es „Macbeth“inszeniere­n, sondern ein die heutige Welt spiegelnde­s Stück schreiben. Wie das genau aussieht, erfahren wir im Dezember.

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FOTO: REINHARD MAXIMILIAN WERNER Simon Stone versetzte vergangene Saison am Theater Basel Minidramen der Moderne in sein „Hotel Strindberg“.

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