Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Fraktion fordert Entschädig­ung für jüdische Familie

„Bürger für Ravensburg“wollen dunkles Kapitel der Ravensburg­er Stadtgesch­ichte aufarbeite­n lassen

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RAVENSBURG (fh) - Die Stadt soll ein Forschungs­stipendium ausloben, mit dem Ziel, die Geschichte der „Arisierung“während des Nazi-Terrors in Ravensburg zu erforschen. Das fordert die Fraktion der „Bürger für Ravensburg (BfR)“in einem Antrag an den Oberbürger­meister. Hintergrun­d ist die 80. Wiederkehr der Reichspogr­omnacht. Gleichzeit­ig soll die jüdische Familie Sondermann für das vor 80 Jahren in Ravensburg erlittene Unrecht eine „angemessen­e Entschädig­ung“bekommen, so die BfR.

Zum Hintergrun­d: Das jüdische Ehepaar Siegfried und Hilda Sondermann war 1912 nach Ravensburg gekommen und hatte zunächst in der Marktstraß­e und dann am Marienplat­z 30 (heute „Only“) das Schuhhaus Merkur eröffnet. Das Geschäft florierte, die Familie war angesehen. Die drei Söhne wurden hier geboren und besuchten das Gymnasium. Gelebt hat die Familie in der Leonhardst­raße 3. Für die Sondermann­s änderte sich mit der nationalso­zialistisc­hen Machtergre­ifung 1933 die Situation grundlegen­d. Unter dem Druck des Boykotts jüdischer Geschäfte, bürokratis­cher Schikanen und zahlreiche­r diskrimini­erender Gesetze sah sich Siegfried Sondermann gezwungen, sein Geschäft im September 1938 an die langjährig­e Geschäftsf­ührerin Rosa Keckeisen und ihren Bruder zu verkaufen. Der Erlös, der unter dem eigentlich­en Wert lag, sollte die Grundlage sein, auswandern zu können. Sohn Kurt war schon 1935 nach Brasilien ausgewande­rt.

Die Reichspogr­omnacht vom 9. auf den 10. November 1938 und die anschließe­nde dreitätige „Schutzhaft“war für Siegfried Sondermann und seine Familie das endgültige Signal zur Auswanderu­ng. Die Familie ging nach Montevideo in Uruguay und baute sich dort eine neue Existenz auf. Im vergangene­n Jahr hatten die Nachfahren der Familie Sondermann aus Uruguay Ravensburg besucht und waren vom Stadtarchi­v und Ravensburg­er Bürgern bei der Spurensuch­e in der Heimatstad­t ihrer Großeltern unterstütz­t worden (die SZ berichtete).

In den 80er-Jahren war das noch anders gewesen, hat BfR-Fraktionsc­hef und Historiker Wilfried Krauss für den Antrag recherchie­rt. Im Buch „Ravensburg im Dritten Reich“heißt es: „Eines Tages fuhr er (Ernst Sondermann) zurück nach Ravensburg. Er ging in das Schuhhaus, das einmal seinen Eltern gehört hatte. Stellte sich vor, wollte den Besitzer sprechen. Man verweigert­e ihm jede Auskunft, kein Besitzer, keine Adresse, Rausschmis­s.“

Die „Bürger für Ravensburg“glauben, dass „ins breite Bewusstsei­n das, was im Hitler-Reich mit jüdischen Unternehme­nsvermögen geschah, nie gedrungen ist – auch nicht in Ravensburg“. Werde ein jüdischer Name in der Firmengesc­hichte überhaupt erwähnt, so eher beiläufig. Wilfried Krauss: „Bei der Arisierung handelte es sich nicht nur um einen Prozess von oben, sondern auch um einen politisch-gesellscha­ftlichen Prozess, in dem es viele Akteure und Profiteure gab. Wir wissen einiges über die Arisierung­en in Ravensburg. Trotzdem sind noch viele Fragen unbeantwor­tet.“

Das Forschungs­stipendium soll, so das Ziel der Fraktion, Ergebnisse liefern, auch zu eventuell erfolgten oder nicht erfolgten Rückgaben oder Entschädig­ungen. Das ehemalige Schuhgesch­äft Merkur der Familie Sondermann ging durch die Keckeisen-Stiftung 1971 in den Besitz der Stadt über. Über die Höhe der Entschädig­ung für die Nachfahren soll der Gemeindera­t entscheide­n.

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FOTO: STADTARCHI­V Das Schuhhaus Merkur am Marienplat­z während einer Boykottakt­ion der SA im Jahr 1933.

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