Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Schüler hoffen auf ein Herz für die FSA
Zwei Schüler schreiben einen Brief an Behörden und schildern ihre persönliche Sichtweise
WANGEN - Seit mehreren Jahren besucht Marcel die Freie Schule Allgäu. Im kommenden Sommer will er dort seinen Realschulabschluss meistern. Eigentlich. Denn sollten die weiterführenden Bildungsgänge nach den Herbstferien tatsächlich geschlossen werden, müsste er sich sehr zügig nach einer anderen Schule umsehen.
Das allein wäre nach Aussagen des Staatlichen Schulamts in Markdorf nicht das Problem. Es hatte zuletzt auf Hilfsangebote hingewiesen und nach eigener Aussage (staatliche) Schulen in der Umgebung kurzfristig nach freien Plätzen abgeklopft.
Marcel sieht durch die aktuell drohende Schließung seine Aussichten auf den anvisierten Abschluss im kommenden Jahr dennoch stark geschmälert. Nicht, weil er sich mitten im Schuljahr durch den Wechsel an eine neue Schule, neue Lehrer und neue Mitschüler gewöhnen muss. Und auch nicht, weil Letztere in einigen Bereichen des Bildungsplans vielleicht schon weiter sein mögen.
Probleme in der Grundschulzeit
Nein. Es ist auch seine persönliche Geschichte. Und die beinhaltet nicht den „normalen“und geraden Lebensund Bildungsweg, den man jedem Heranwachsenden wünscht. Deswegen will er – wie sein Schulfreund Andreas – nicht, dass sein Name in der Zeitung steht. Er ist also geändert worden. Allerdings haben sich Andreas und Marcel in den vergangenen Tagen an die SZ gewandt. Denn beide sehen ihre Chancen nur auf der FSA. Warum das so ist, wollen sie in die Öffentlichkeit tragen.
Bei Marcel zum Beispiel hat das ganz viel mit seinem Werdegang zu tun. Zu Grundschulzeiten war er nach eigener Aussage Opfer von Mobbing und Gewalt. Dadurch habe er eine Schulphobie und eine Art Angst vor anderen Menschen entwickelt.
Auf einer weiterführenden Schule im Raum Wangen blieb das Problem bestehen. Erneutes Mobbing durch Mitschüler folgte ebenso wie ärztliche Behandlungen und eine Therapie. Es half nicht: „An der Schule ging es nicht mehr. Da waren zu viele Leute“, erzählt er.
Die Hilfe durch die Freie Schule sei deshalb „ein Riesenangebot“gewesen. Das erste halbe Jahr lang konnte er dort zurückgezogen und oft alleine lernen. Mit seinem Hund als „Stütze“. Natürlich wurde er begleitet, stellt Marcel klar. Angst und Phobie legten sich mit der Zeit, zwischenzeitlich war er sogar Klassenund Schulsprecher an der FSA.
Laut Marcel ist er selbst nur ein Beispiel von mehreren, warum Schüler, die es anderswo schwer haben, an der Freien Schule über kurz oder lang erfolgreich sein könnten: „Die meisten Quereinsteiger bei uns kamen an staatlichen Schulen mit dem Leistungsdruck nicht klar und wurden gemobbt.“
Die Prüfungen zum Hauptschulabschluss hat Marcel im vergangenen Jahr schon erfolgreich hinter sich gebracht. Auch sieht er seine Aussichten auf den Abschluss der Realschule in rund neun Monaten gut. Innerhalb dieses Zeitrahmens aber nur an der FSA. Denn dort sei er gemäß seiner Vorgeschichte und Entwicklung gefördert worden und habe entsprechend lernen können. In kleineren und größeren Gruppen oder ganz individuell.
Ob das bis jetzt erreichte Wissen reicht, nach den Herbstferien auch an einer anderen Schule erfolgreich sein zu können, bezweifeln Marcel und Andreas stark. „Wenn aber die Freie Schule bestehen bleibt, bestehe ich auf jeden Fall“, ist sich Marcel sicher. Später im Gespräch schiebt er nach: Und das mit guten Noten.
Sicher, das gibt Andreas zu: „Die Schließung gab es nicht ohne Grund.“An der FSA habe es im vergangenen Jahr tatsächlich große Personalprobleme gegeben. Im Herbst 2017 seien mehrere der an dieser Schule Begleiter genannten Lehrkräfte gegangen. Nur Mathematik sei wirklich durchgehend unterrichtet worden. „Wir hatten einfach viel Leerlauf“, sagt Andreas. Und deswegen hätten sie auch jetzt noch Wissenslücken zu schließen. Zur Erinnerung: Im vergangenen Herbst trat das Staatliche Schulamt erstmals auf den Plan, wie aus den Unterlagen zum Beschluss des Verwaltungsgerichts Sigmaringen hervorgeht. Das hatte vor kurzem den im Sommer erfolgten Widerruf der Genehmigungen für den Betrieb der Sekundarstufe durch das Regierungspräsidium (RP) bestätigt. Derzeit sieht vieles danach aus, dass es deshalb für die Schüler der weiterführenden Bildungsgänge an der Freien Schule nicht weiter geht.
Die Schuldfrage für diese Entwicklung stellen Andreas und Marcel nicht. Sie betonen aber: Im zweiten Halbjahr sei eine neue Fachkraft für den Deutsch-Unterricht gestartet. Marcel: „Und das hat mir immerhin gereicht, um den Hauptschulabschluss zu schaffen.“
Heute stehe die Schule personell besser da, auch deswegen sind die beiden Jugendlichen zuversichtlich, die Realschule an der FSA zu packen. Drei neue Fachkräfte seien dazu gekommen. Allesamt „hochmotiviert“, wie die Schüler sagen. „Und dadurch sind auch wir motiviert“, so Andreas. Durch die Kooperation mit der Freien Waldorfschule ganz in der Nähe stehe überdies jetzt auch ein Chemieraum zur Verfügung. Neben dem Mangel an Fachkräften hatten Schulamt und RP als übergeordnete Schulaufsicht dies ebenfalls angemahnt.
„Dann kam der Knall“
Das Schuljahr sei im September gut gestartet, sagt Andreas. Obwohl seit dem Ende der Sommerferien das Damoklesschwert der Schließung über den weiterführenden Zweigen der Schule schwebte. „Wir hatten aber einen Tunnelblick“, ergänzt er – bei Marcel war es der in Richtung Abschluss. Bis vor zwei Wochen: „Dann kam der Knall“, sagt Andreas. Und zwar in Form des Beschlusses des Verwaltungsgerichts.
Den wollen er und Marcel so nicht akzeptieren. Marcel zum Beispiel sieht die Freie Schule als „letzte Chance“für sich. Beide haben einen Brief geschrieben (siehe Kasten). Er ging auch ans Regierungspräsidium. Darin werten sie die Entscheidung der Behörde als „rücksichtslos, ignorant und unverantwortlich.“Die aktuelle – und verbesserte – personelle Situation sei bei der Entscheidung „nicht berücksichtigt“worden.
Nicht berücksichtigt seien auch die Belange aller FSA-Schüler generell. Auf Marcel bezogen bedeutet das: Das RP lege ihm nicht nur aktuell Steine in den Weg, sondern es verbaue womöglich auch den angepeilten weiteren Weg. Und der heißt: Marcel will Abitur machen.