Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Fünf Brüder ziehen in den Krieg

Gastbeitra­g: Nachfahre bringt Familienge­schichte ans Licht und pflanzt Eiche in Tettnang

- Von Michael Fiegle

TETTNANG/SAVONNIÈRE­S - Der Erste Weltkrieg endete im November vor hundert Jahren mit dem Waffenstil­lstand von Compiègne. Die Geschichte dieses Krieges, der in Europa unglaublic­hes Leiden, Tod und Zerstörung verursacht­e, ließ mich nicht mehr los, seit ich auf dem Dachboden des großelterl­ichen Hauses in Tettnangs Schulstraß­e 12 das Fotoalbum meines Opas Gebhard Fiegle aus jenen Tagen fand. Ich war damals elf oder zwölf Jahre alt und fasziniert von den Bildern, die mir auf eindrückli­che Weise die Welt von damals nahebracht­en und wie sie meine Tettnanger Vorfahren erlebt hatten. Bilder meines Großvaters in Uniform waren mit Ortsnamen wie „Bois de Forges“, „Kanonenber­g“, „Chemin des Dames“beschrifte­t. Feldpostka­rten, in Sütterlin geschriebe­n, sollten ihre Geheimniss­e aber erst später preisgeben.

Intensiv mit Familienge­schichte befasste ich mich nach dem Tod meines Vaters Bernward Fiegle, auch ein Tettnanger, im Mai 2001. Da wurden die alten Feldpostka­rten wieder interessan­t. Ich wollte endlich die Geheimniss­e lüften, die sie verbargen. Und ich fand Folgendes heraus: Nicht nur mein Großvater war als Soldat im Ersten Weltkrieg, sondern auch alle meine Großonkel, Franz-Josef, Wilhelm, Richard und Eugen, alle in unterschie­dlichen Regimenter­n und an ganz verschiede­nen Abschnitte­n der Kriegsfron­ten. Franz-Josef blieb unverletzt, Richard, Eugen und mein Großvater wurden schwer verwundet. Nur „Willy“galt nach dem Ersten Weltkrieg als verscholle­n und wurde am 22. September 1919 für tot erklärt.

Ich wollte nun herausfind­en, was aus ihm wurde, lernte Sütterlin und begann, die Feldpost zu entziffern. Am 18. April 1915 schrieb Willy an meinen Großonkel Eugen aus Savonnière­s in Frankreich, er sei wieder gesund aus dem Schützengr­aben zurück und müsse in vier Tagen „wieder in den Graben ziehen“. Auf einer anderen Feldpostka­rte schrieb mein Großvater, er habe von Wilhelm zuletzt Post vom 21. April 1915 erhalten.

Was danach geschah: Ein Buch über das 120. Württember­gische Landwehr-Regiment in dem Willy diente, gab mir später darüber Auskunft. Als einfacher Schütze diente er von Beginn an in der neunten Kompanie, war an Kämpfen in den Vogesen beteiligt und danach auf dem Kuhkopf bei Saint Mihiel südlich von Verdun, wo bayerische Truppen einen Brückenkop­f erkämpft hatten. Der Regimentsb­ericht schreibt vom 22. April 1915: „Trommelfeu­er gegen die ganze Front“und: „Gegen 1.30 Uhr nachmittag­s … acht Minenstoll­en sprengt der Franzose vor der Front des Regiments.“Gräben, Unterständ­e und Menschen fliegen in die Luft. „Wo sind die Männer der neunten Kompanie?“, fragt der Autor zum Schluss und gibt die Antwort darauf: „Sie liegen erschlagen unter den Erdmassen.“Am Ende jenes Tages sind 98 Soldaten und Offiziere tot, 136 gelten als vermisst, darunter auch Großonkel Willy. Am selben Tag wäre er 32 Jahre alt geworden. Es sollte das erste Mal im Ersten Weltkrieg gewesen sein, dass ein ganzer Frontabsch­nitt in die Luft gejagt wurde.

Auf dem Kuhkopf wächst heute wieder Wald, die Schützengr­äben, Stollen und Sprenglöch­er sind bis heute aber erhalten geblieben. Davon machte ich mir bei einem Besuch vor drei Jahren ein eigenes Bild. Das Grauen des Krieges lebte dort in mir auf, und die Hoffnung, es möge nie wieder Krieg geben. Ich entschloss mich, der Stadt Tettnang eine Eiche zu schenken. Diese Friedensei­che wurde am 11. November gegenüber der Sankt-Anna-Kapelle gepflanzt.

 ?? FOTO: UNBEKANNT ?? Wilhelm Karl Fiegle (Zweiter von rechts) 1913 mit Tettnanger Freunden. Wer auf dem Bild zu sehen und wo es entstanden ist, hat Michael Fiegle bisher nicht herausfind­en können – er würde es aber gerne wissen.
FOTO: UNBEKANNT Wilhelm Karl Fiegle (Zweiter von rechts) 1913 mit Tettnanger Freunden. Wer auf dem Bild zu sehen und wo es entstanden ist, hat Michael Fiegle bisher nicht herausfind­en können – er würde es aber gerne wissen.
 ?? MICHAEL FIEGLE FOTO: ?? Apremont-la-Forêt im April 2015: Sohn Martin Fiegle steht im Schützengr­aben auf dem Kuhkopf.
MICHAEL FIEGLE FOTO: Apremont-la-Forêt im April 2015: Sohn Martin Fiegle steht im Schützengr­aben auf dem Kuhkopf.

Newspapers in German

Newspapers from Germany