Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Fünf Brüder ziehen in den Krieg
Gastbeitrag: Nachfahre bringt Familiengeschichte ans Licht und pflanzt Eiche in Tettnang
TETTNANG/SAVONNIÈRES - Der Erste Weltkrieg endete im November vor hundert Jahren mit dem Waffenstillstand von Compiègne. Die Geschichte dieses Krieges, der in Europa unglaubliches Leiden, Tod und Zerstörung verursachte, ließ mich nicht mehr los, seit ich auf dem Dachboden des großelterlichen Hauses in Tettnangs Schulstraße 12 das Fotoalbum meines Opas Gebhard Fiegle aus jenen Tagen fand. Ich war damals elf oder zwölf Jahre alt und fasziniert von den Bildern, die mir auf eindrückliche Weise die Welt von damals nahebrachten und wie sie meine Tettnanger Vorfahren erlebt hatten. Bilder meines Großvaters in Uniform waren mit Ortsnamen wie „Bois de Forges“, „Kanonenberg“, „Chemin des Dames“beschriftet. Feldpostkarten, in Sütterlin geschrieben, sollten ihre Geheimnisse aber erst später preisgeben.
Intensiv mit Familiengeschichte befasste ich mich nach dem Tod meines Vaters Bernward Fiegle, auch ein Tettnanger, im Mai 2001. Da wurden die alten Feldpostkarten wieder interessant. Ich wollte endlich die Geheimnisse lüften, die sie verbargen. Und ich fand Folgendes heraus: Nicht nur mein Großvater war als Soldat im Ersten Weltkrieg, sondern auch alle meine Großonkel, Franz-Josef, Wilhelm, Richard und Eugen, alle in unterschiedlichen Regimentern und an ganz verschiedenen Abschnitten der Kriegsfronten. Franz-Josef blieb unverletzt, Richard, Eugen und mein Großvater wurden schwer verwundet. Nur „Willy“galt nach dem Ersten Weltkrieg als verschollen und wurde am 22. September 1919 für tot erklärt.
Ich wollte nun herausfinden, was aus ihm wurde, lernte Sütterlin und begann, die Feldpost zu entziffern. Am 18. April 1915 schrieb Willy an meinen Großonkel Eugen aus Savonnières in Frankreich, er sei wieder gesund aus dem Schützengraben zurück und müsse in vier Tagen „wieder in den Graben ziehen“. Auf einer anderen Feldpostkarte schrieb mein Großvater, er habe von Wilhelm zuletzt Post vom 21. April 1915 erhalten.
Was danach geschah: Ein Buch über das 120. Württembergische Landwehr-Regiment in dem Willy diente, gab mir später darüber Auskunft. Als einfacher Schütze diente er von Beginn an in der neunten Kompanie, war an Kämpfen in den Vogesen beteiligt und danach auf dem Kuhkopf bei Saint Mihiel südlich von Verdun, wo bayerische Truppen einen Brückenkopf erkämpft hatten. Der Regimentsbericht schreibt vom 22. April 1915: „Trommelfeuer gegen die ganze Front“und: „Gegen 1.30 Uhr nachmittags … acht Minenstollen sprengt der Franzose vor der Front des Regiments.“Gräben, Unterstände und Menschen fliegen in die Luft. „Wo sind die Männer der neunten Kompanie?“, fragt der Autor zum Schluss und gibt die Antwort darauf: „Sie liegen erschlagen unter den Erdmassen.“Am Ende jenes Tages sind 98 Soldaten und Offiziere tot, 136 gelten als vermisst, darunter auch Großonkel Willy. Am selben Tag wäre er 32 Jahre alt geworden. Es sollte das erste Mal im Ersten Weltkrieg gewesen sein, dass ein ganzer Frontabschnitt in die Luft gejagt wurde.
Auf dem Kuhkopf wächst heute wieder Wald, die Schützengräben, Stollen und Sprenglöcher sind bis heute aber erhalten geblieben. Davon machte ich mir bei einem Besuch vor drei Jahren ein eigenes Bild. Das Grauen des Krieges lebte dort in mir auf, und die Hoffnung, es möge nie wieder Krieg geben. Ich entschloss mich, der Stadt Tettnang eine Eiche zu schenken. Diese Friedenseiche wurde am 11. November gegenüber der Sankt-Anna-Kapelle gepflanzt.