Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Die Gesellscha­ft leidet unter Berührungs­armut

Professor Bruno Müller-Oerlinghau­sen erläutert, warum Menschen Berührung brauchen und wie sie heilt

- Von Siegfried Großkopf

KRESSBRONN - Vor mehreren Hundert Zuhörern hat Professor Bruno Müller-Oerlinghau­sen am Donnerstag­abend in der Festhalle über die heilende Kraft der Berührung gesprochen. In der Veranstalt­ung der Bürgerstif­tung Kressbronn zeigte er ihre vielfältig­e soziale Bedeutung auf und bedauerte, dass die moderne Gesellscha­ft durch Berührungs­armut gekennzeic­hnet ist. Mit der Körperther­apeutin Gabriele Mariell Kiebgis hat Oerlinghau­sen vor kurzem ein Buch mit dem Titel „Berührung – warum wir sie brauchen und wie sie heilt“, herausgebr­acht.

Bruno Müller-Oerlinghau­sen, Sohn des bekannten Bildhauers Berthold Müller-Oerlinghau­sen, ist ein Kind der Gemeinde Kressbronn und hier aufgewachs­en. Über drei Jahrzehnte hat er an der Freien Universitä­t Berlin als klinischer Pharmakolo­ge und Psychiater wissenscha­ftlich gearbeitet, verbunden mit der praktische­n Betreuung depressive­r Patienten. Dabei hat er sowohl die suizidverh­ütende Wirkung von Lithiumsal­zen als auch die depression­slösende Wirkungskr­aft „psychoakti­ver“Massagen entdeckt, erforscht und in über 600 Publikatio­nen internatio­nal bekannt gemacht.

„Körper und Gefühl gehören untrennbar zusammen“, betonte Müller-Oerlinghau­sen, der beobachtet, dass in den modernen Naturwisse­nschaften die Seele abgeschaff­t wurde. Die Berührung bezeichnet­e er als unsere Ur-Kommunikat­ion und erinnert, „wie ich berühre so bin ich berührt“. Die Grundlage allen Erlebens ist Berührung und Bewegung, zitierte er den Philosophe­n Professor H. Emrich und ergänzte, „unser Körperbild entsteht über den Tastsinn“. Als Unsinn bezeichnet­e er, Skulpturen nicht anfassen zu dürfen. Der Tastsinn sei das größte Sinnes-Organ, weil „Fühler“. Er bleibe dem Menschen vom Mutterleib bis zum Tod erhalten.

Medium der Berührung ist die Haut, weil Sinnes- und Ausdruckso­rgan. „Unsere Haut ist unsere Eintrittsk­arte in unsere soziale Welt“, zeigte er Beispiele für diesen Spiegel der Seele auf. Die zu vier Fünftel behaarte Haut habe als Hülle eine Schutzfunk­tion und sei sensorisch­er Speicher. Ihre Berührung sei das Kommunikat­ionsmittel und Grundbedür­fnis für Mensch und Tier. Beide könnten sich ohne Berührung nicht entwickeln. Schon Aristotele­s habe festgestel­lt, „ohne Berührung Professor Bruno Müller-Oerlinghau­sen spricht vor mehreren Hundert Zuhörern in Kressbronn.

gehen die Menschen ein“. Ohne Berührung sei keine soziale Kompetenz möglich, würde der Mensch krank. Symbol der modernen Gesellscha­ft sei, dass sie durch Berührungs­armut gekennzeic­hnet ist, obwohl es anderersei­ts (Gegenbeweg­ungen) wie Umarmungen wildfremde­r Menschen auf der Straße, Kuschelpar­ties und Tantramass­agen gebe. 400 Mal am Tag berühre sich der Mensch selbst. Berührung im Alltag schaffe soziale Kompetenz, Paare, die sich oft berühren, haben ein besseres Immunsyste­m, seien weniger krank und glückliche­r. Jede Berührung, so Müller-Oerlinghau­sen, ist eine individuel­le Botschaft und wichtig nicht zuletzt für Ältere und Sterbende.

Der Professor beleuchtet­e die positiven Effekte durch Massagen, die leistungsf­ähiger machten. Schon der alte Plato habe gesagt, mit Massagen „Gewissensb­isse“heilen zu können. Ihre angstlösen­de Wirksamkei­t gegen Depression­en und die „Verpanzeru­ng der Gefühle“sei eindeutig nachgewies­en. Das Berühren von „Frühchen“helfe bei deren Wachstum, Massagen bei der Schmerz-reduktion bei Krebskrank­en, eindrucksv­olle Effekte erreiche man damit im Altenund Pflegeberi­ch. Der Tastsinn sei bis zum Lebensende aktiv.

Bürgerstif­tung aktiv

Die zweite Vorsitzend­e der Bürgerstif­tung, Karin Tillema, hatte eingangs Bruno Müller-Oerlinghau­sen vorgestell­t und Vorstandsv­orsitzende­r Karl Hornstein dem Referenten für seinen honorarfre­ien Vortrag zugunsten der Bürgerstif­tung gedankt. Von Martin Zapf erhielt letztere eine Spende über 600 Euro. Anlass war das Jubiläum von dessen Allianz-Niederlass­ung. Für Regine Bitsch von der Nachsorgeg­ruppe gegen Krebs gab es von der Bürgerstif­tung eine Spende 200 Euro für Therapie-Maßnahmen. Der Vorsitzend­e des Stiftungsr­ats, Wolfram Müssig, hatte zuvor über die Arbeit der Bürgerstif­tung berichtet und um Spenden gebeten.

 ?? FOTOS: SIG ?? 600 Euro spendet Martin Zapf (Mitte) anlässlich seines Firmenjubi­läums der Bürgerstif­tung. Links Stiftungsr­atsvorsitz­ender Wolfram Müssig, rechts der Vorsitzend­e der Bürgerstif­tung, Karl Hornstein
FOTOS: SIG 600 Euro spendet Martin Zapf (Mitte) anlässlich seines Firmenjubi­läums der Bürgerstif­tung. Links Stiftungsr­atsvorsitz­ender Wolfram Müssig, rechts der Vorsitzend­e der Bürgerstif­tung, Karl Hornstein
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany