Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Angst vor schmutziger Trennung geht um
„Nur Verlierer“: EU-Staaten billigen das Brexit-Paket – Banger Blick geht jetzt nach London
BRÜSSEL/BERLIN - Erstmals in ihrer Geschichte macht sich die Europäische Union bereit für den Austritt eines Mitgliedsstaats. Die 27 bleibenden EU-Staaten billigten am Sonntag das Brexit-Paket mit Großbritannien. Doch nicht nur Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erwartet nach dem Sondergipfel noch hohe Hürden. Auch EU-Ratschef Donald Tusk sprach von einem schwierigen Ratifizierungsprozess. Denn im britischen Parlament ist keine Mehrheit für den Vertrag in Sicht.
Der von EU-Chefunterhändler Michel Barnier mit der britischen Seite ausgehandelte Austrittsvertrag umfasst knapp 600 Seiten. Darin sind die Bedingungen der Trennung festgeschrieben, etwa die Rechte von EU-Bürgern in Großbritannien und Schlusszahlungen des Vereinigten Königreichs an die EU von schätzungsweise rund 45 Milliarden Euro.
Begleitet wird der Vertrag von der politischen Erklärung über eine sehr enge Wirtschafts- und Sicherheitspartnerschaft nach dem Brexit. Die könnte ein Handelsabkommen sowie eine enge Zusammenarbeit bei Verteidigung, Sicherheit, Forschung und Klimawandel umfassen. Details müssten in den kommenden Jahren ausgehandelt werden.
In Deutschland mag in dem wichtigen Schritt vom Sonntag niemand so recht etwas Positives sehen. Als „tragisch“empfindet Angela Merkel den Austritt Großbritanniens aus der EU. „Es gibt hier keine Gewinner, nur Verlierer“, sagte Michael Roth (SPD), Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. IfoChef Clemens Fuest warnte vor den langfristigen Folgen: „Durch den Austritt der Briten verliert die EU global an Gewicht. “
Groß sind die Sorgen vor einem schweren wirtschaftlichen Schaden für den Fall, dass das britische Parlament den Vertrag ablehnen sollte und aus der erhofften geordneten eine schmutzige Trennung wird. Premierministerin Theresa May kündigte an für den Deal zu kämpfen. Das muss sie auch: Neben der Opposition wollen viele Hardliner der Konservativen Partei sowie die nordirische DUP, auf deren Stimmen Mays Minderheitsregierung angewiesen ist, den Deal ablehnen. Die Gefahr eines chaotischen Brexits am 29. März ist deshalb weiter nicht gebannt.
BRÜSSEL/LONDON (dpa) - Mit dem Brexit am 29. März 2019 ändert sich im Alltag im besten Fall: erstmal gar nichts. Der EU-Austrittsvertrag mit Großbritannien sieht eine Übergangszeit vor und verschiebt die praktischen Folgen der Trennung somit mindestens auf Ende 2020. Das gilt aber nur, wenn der Pakt auch ratifiziert wird. Platzt der Deal, droht Chaos für Bürger und Unternehmen. Was also bedeutet das Vertragspaket?
Für Bürger und Unternehmen:
Zentral ist die Übergangsphase bis mindestens Ende 2020. Sie kann einmal um bis zu zwei Jahre verlängert werden, also längstens bis Ende 2022. In dieser Zeit bleibt Großbritannien im EU-Binnenmarkt und in der Europäischen Zollunion, alle EU-Regeln gelten weiter. Es gibt keine Zollkontrollen, Einfuhr- oder Reisebeschränkungen. Da Großbritannien nach dem Austritt offiziell Drittstaat ist, darf es in Brüssel aber nicht mehr mitbestimmen. Neue EU-Regeln muss es trotzdem akzeptieren. Gedacht ist dies als Schonfrist für die Wirtschaft, aber auch als Verhandlungszeit, um die dauerhaften Beziehungen beider Seiten zu klären. Würde der Vertrag nicht rechtzeitig vor Ende März ratifiziert, sähe alles ganz anders aus. Dann gäbe es keine Übergangsfrist und es drohte ein abrupter Bruch, unter anderem mit langen Wartezeiten am Zoll und großer Unsicherheit.
Für EU-Bürger in Großbritannien und Briten in der EU:
Der Vertrag sichert zu, dass die mehr als drei Millionen EU-Bürger in Großbritannien und eine Million Briten auf dem Festland auch nach der Übergangsphase weiterleben können wie bisher. Das betrifft ihr Recht auf Aufenthalt, Erwerbstätigkeit, auf Ansprüche an die Sozialkassen und auf Anerkennung beruflicher Qualifikationen. Träte der Vertrag nicht in Kraft, würde diese Rechtssicherheit fehlen. Doch würden wohl Notfallvereinbarungen geschlossen.
Für Menschen in Irland und Nordirland
Nach langem Streit ist nun im Vertrag garantiert, dass die Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland offenbleibt, also keine Schlagbäume oder Kontrollen eingeführt werden. Auch dafür wollen beide Seiten in der Übergangsphase eine dauerhafte Lösung finden. Für den Fall, dass dies nicht gelingt, gibt es eine Garantieklausel, den „Backstop“. Dann bliebe ganz Großbritannien in einer Zollunion mit gemeinsamen Standards mit der EU, um Grenzkontrollen zu vermeiden. Für Nordirland würden zudem weiter Bedingungen des EU-Binnenmarkts sowie einige Kontrollpflichten für Waren aus dem übrigen Vereinigten Königreich gelten. Käme dies nicht, müsste die Republik Irland die neue EU-Außengrenze kontrollieren. Eine solche Teilung der irischen Insel widerspräche aber dem Karfreitagsabkommen von 1998, das Jahrzehnte der Gewalt in Nordirland beendete.
Für den Steuerzahler:
Großbritannien sagt im Vertrag zu, für finanzielle Pflichten aus der Zeit seiner EU-Mitgliedschaft einzustehen. Bis zum Ende der Übergangszeit zahlt London weiter Beiträge in den EU-Haushalt. Darüber hinaus übernimmt Großbritannien einen Anteil an langfristigen Lasten, etwa an Pensionszahlungen für EU-Beamte. Die Summe steht nicht im Vertrag, sondern nur „eine faire Berechnungsmethode“. Geschätzt geht es um mindestens 45 Milliarden Euro, die noch von London an Brüssel fließen. Ohne den Vertrag müssten EU-Steuerzahler einspringen. Schon 2019 würde nach Angaben aus dem Europaparlament ein Loch von etwa zwölf Milliarden Euro aufgerissen.
Für Warenhersteller: Waren mit ● einer Produktzulassung dürfen auch nach Ende der Übergangsphase verkauft werden, ohne dass sie ein besonderes Label brauchen. Ausgenommen sind Tiere und Tierprodukte.