Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Die krebskranken Kinder von Eschenbach
Erkrankungen verunsichern Einwohner des kleinen Ortes im Kreis Göppingen
ESCHENBACH (lsw) - Im Februar 2014 hat Bürgermeister Thomas Schubert erstmals den Eindruck, dass etwas nicht stimmt. Sechs Krebserkrankungen bei Kindern seit 1987, und das in einer 2200-SeelenGemeinde – unter den Einwohnern macht sich Verunsicherung breit.
Eine Anfrage beim Deutschen Krebsregister in Mainz scheint Beruhigung zu bringen: Zwar seien die Zahlen „statistisch signifikant“, doch eine „Ursachenfindung erfahrungsgemäß meist nicht möglich“. Der Rat der Experten seinerzeit, so Schubert: „Kein blinder Aktionismus.“
Heute sieht der parteilose Bürgermeister das anders: „Man hat das Gefühl, dass sich eine dunkle Wolke über Eschenbach gelegt hat“, klagt Schubert bei einem Informationsabend am Donnerstag mit Blick auf Fälle von Leukämie bei Kindern.
Statistiker spricht von „Zufall“
Rund 250 Zuhörer sind in die hochmoderne Halle gekommen, viele junge Mütter und Väter darunter, manche haben ihre Kinder dabei. Rund ein Dutzend Experten sitzt auf dem Podium, Fachleute vom Deutschen Krebsregister, Ärztinnen vom Gesundheitsamt Göppingen, ein Regierungsdirektor vom Regierungspräsidium Stuttgart. Reihenweise präsentieren sie Schautafeln, Statistiken, Zahlen. Vieles davon gibt es auch auf der Internetseite der Gemeinde – Zahlen etwa dazu, dass von 100 000 Kindern – unter 15-Jährige – pro Jahr 17 an Krebs erkranken.
Doch vor allem die Statistiker hinterlassen alles andere als Klarheit. Karlin Stark vom Krebsregister meint, gerade bei kleinen Gemeinden seien Zahlen wie jetzt hier in der Gemeinde problematisch. „Die Erkrankungen in Eschenbach könnten zufällig sein.“Zufall? Sonderlich beruhigend klingt das für die jungen Mütter und Väter nicht.
Am Tag nach der Veranstaltung gibt der Bürgermeister auf Anfrage neue Zahlen bekannt: Demnach sind in den vergangenen zehn Jahren sechs Kinder im Alter bis zu 17 Jahren an Krebs erkrankt, zwei sind gestorben. Seit 1989 habe man acht Kranke registriert, vier seien gestorben.
Dass Kinder an Krebs erkranken, gilt als extrem selten. Laut Deutschem Kinderkrebsregister wird bei etwa jedem 420. Kind unter 15 Jahren ein bösartiger Tumor diagnostiziert. Die Wahrscheinlichkeit, innerhalb der ersten 15 Lebensjahre Krebs zu bekommen, betrage demnach 0,2 Prozent. Jedes Jahr werden in Deutschland etwa 1800 neue Fälle diagnostiziert, so das Krebsregister.
Was die möglichen Ursachen angeht, herrscht eher Ratlosigkeit. Die Untersuchungen der Innenräume von Schulen und Kindergärten, die Messungen der Böden und der Nahrungsmittel auf erhöhte Pestizidwerte sowie die Untersuchungen des Trinkwassers – alles habe keinerlei Hinweise auf überhöhte Werte und Gefahren ergeben, heißt es. Die Ursachen der Erkrankungen bleiben ein Rätsel.
Auch vom nahegelegenen Müllheizkraftwerk Göppingen gehe keinerlei Gefahr aus: „Alle Werte wurden zu 100 Prozent eingehalten“, wird versichert. Wer denn die Untersuchungen mache, unabhängige Experten?, will ein Zuhörer wissen. „Oder geht das hier analog zur Dieselabschaltung?“, meint er. Ein weiterer Kritiker moniert, die Emissionen des Heizwerks seien lediglich auf zwei Dioxin-Verbindungen überprüft worden, es gebe aber über 130 solcher Verbindungen.
Kritik an Heizkraftwerk
Tatsächlich war das Heizkraftwerk auch dem Bürgermeister ein Dorn im Auge. „Eine wahre Dioxinschleuder“sei die Anlage bis zur Sanierung in den 1990er-Jahren gewesen. Erst vor einigen Wochen hatte Schubert zu einer Demonstration gegen eine geplante Kapazitätsausweitung der Anlage aufgerufen. Jetzt dringt der Bürgermeister nochmals auf Überprüfungen.
Eine junge Mutter, die samt Ehemann und ihren zwei kleinen Mädchen gekommen ist, ist misstrauisch. „Wir sehen jeden Tag die Gase aus dem Heizwerk aufsteigen, mal gehen sie in die eine Richtung, mal in die andere“, meint sie. „Ich glaube, niemand will hier wirklich die Ursachen finden, es wäre eine Katastrophe für die Gemeinde.“
Zum Abschluss prangt in der Stadthalle ein Schaubild an der Wand. „Fazit: Nach heutigem Kenntnisstand: Keine Kausalitäten, keine Zusammenhänge, keine Begründungen.“Die Ursachen der Krebshäufigkeit in Eschenbach bleiben ein Rätsel. Bürgermeister Schubert sagt: „Wir bleiben bei dem Thema dran.“