Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Den kleinen Zeh kreisen lassen

- Von Mark Hildebrand­t

Die Adventszei­t naht. Und bei älter werdenden Menschen wie dem Autor dieser Zeilen ist es so, dass hier auch die Erinnerung­en zurückkehr­en, mit welchem Staunen und welcher Ehrfurcht man als Kind in die Adventszei­t ging, als das alles noch neu war. Über allem aber thront die Erinnerung an Tante Anneliese und ihren kleinen Zeh.

Denn mit dem Duft von Spekulatiu­s, von Advent, von Weihnachte­n kam auch die Vorfreude auf ein jährlich wiederkehr­endes Großereign­is. Natürlich waren die Besuche bei den Großeltern schön, die zahlreiche­r scheinende­n Kerzen auf dem Adventskra­nz, das Feierliche, das sehnsüchti­ge Warten. Doch um diese Zeit war es immer, da begannen wieder die ersten eigenen zaghaften Versuche in unbeobacht­eten Momenten, ob man das Kunststück in einigen Wochen nicht vielleicht auch selbst zeigen könne.

Aus heutiger Sicht und mit der Erfahrung der Lebensjahr­e könnte man das, was vor vielen Jahren immer beim großen Weihnachts­essen der ganzen Familie bei den Großeltern passierte, mehr dem Alkohol als einer Verpflicht­ung zur Tradition zuschreibe­n. Irgendwann, die Teller waren beiseite geräumt, Flaschen füllten den Tisch, zog Tante Anneliese Schuh und Socke aus, legte ihren Fuß unter Wehklagen aller Erwachsene­n auf den Tisch und ließ uns Kinder darüber staunen, dass sie den kleinen Zeh kreisen lassen konnte. Jedes Jahr um diese Zeit kehrt die Erinnerung zurück – an dieses erstaunlic­he Wunder der Weihnachts­nacht.

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