Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Die vereinigte­n Saaten

Der womöglich wertvollst­e Schatz der Welt liegt auf dem arktischen Spitzberge­n – In einem riesigen Weltsaatgu­t-Tresor lagern rund eine Million verschiede­ne Nutzpflanz­ensamen – Sie könnten unsere Zukunft sichern

- Von Markus Wanzeck

Spitzberge­n, Nordpolarm­eer, Jahresdurc­hschnittst­emperatur minus 7 Grad. 2008 wurde hier, im Plateauber­g über dem Flughafen des Städtchens Longyearby­en, ein Bunker eröffnet, in dem der womöglich wertvollst­e Schatz der Menschheit eingelager­t ist: Nutzpflanz­ensaaten aus allen Ecken der Erde. Knapp eine Million Samenprobe­n aus rund 240 Ländern liegen hier. Wobei es jede Samenprobe noch mindestens ein weiteres Mal in einer der weltweit rund 1750 Saatgutban­ken gibt – Spitzberge­n soll der Zweitwohns­itz für möglichst jede Nutzpflanz­ensorte der Welt werden. Hier, tief im Berg, sollen sie kosmische Katastroph­en, verheerend­e Kriege oder die Folgen des Klimawande­ls überstehen.

Der „Weltsaatgu­t-Tresor“hat drei Kammern, jede fünf Meter hoch, 9,50 Meter breit und 27 Meter lang, und ist durch einen 120 Meter langen Tunnel mit der Außenwelt verbunden. 60 Meter unterhalb der Bergkuppe, bombensich­er. 130 Meter über dem Meer, einiges höher als die schlimmste­n Szenarien für den Meeresspie­gelanstieg vorhersage­n. Der Dauerfrost­boden sorgt dafür, dass die Saaten nicht vollends auftauen, sollte einmal der Strom ausfallen, der Eine moderne Sorte mag besser sein. Aber die alte Sorte hat vielleicht eine Eigenschaf­t, die in Zukunft einmal sehr bedeutsam werden könnte.

das Pflanzenar­chiv auf minus 18 Grad herunterkü­hlt. Eigentümer des Bunkers ist Norwegen, das auch die Baukosten von rund neun Millionen US-Dollar getragen hat. Der Welttreuha­ndfonds für Kulturpfla­nzenvielfa­lt in Bonn kommt für die laufenden Kosten von rund 250 000 USDollar im Jahr auf. Das Nordic Genetic Resource Center (Nordgen) der skandinavi­schen Länder ist für den Betrieb und die Anlieferun­g der Samen zuständig.

Denn der Verlust der Vielfalt auf unseren Äckern ist keine abstrakte Bedrohung, er schreitet seit vielen Jahrzehnte­n voran. Die Industrial­isierung der Landwirtsc­haft, Monokultur­en oder die agrarische Globalisie­rung lassen immer mehr Nutzpflanz­enarten verschwind­en. Im 20. Jahrhunder­t ging die Anzahl der in den Vereinigte­n Staaten gängigen Tomatensor­ten um 80 Prozent zurück, von 408 Sorten im Jahr 1903 auf 79 Sorten im Jahr 1983. Bei Bohnen, Karotten und Zwiebeln liegt die Verlustrat­e im selben Zeitraum sogar bei mehr als 90 Prozent.

An sich noch kein Problem, findet Cary Fowler, der den Bau des Weltsaatgu­t-Tresors in seiner Zeit als Leiter des Bonner Crop Trust angestoßen hat: „Dass viele alte durch wenige moderne Sorten ersetzt werden, ist im Großen und Ganzen positiv. Schließlic­h wollen wir möglichst gute Feldfrücht­e ernten.“Ertragreic­h, schmackhaf­t, günstig.

Einen Haken allerdings habe die Sache: „Eine moderne Sorte mag besser sein als diejenige, die sie ersetzt – besser für den Bauern“, meint Fowler. „Aber die alte Sorte hat vielleicht eine Eigenschaf­t, die für uns in Zukunft einmal sehr bedeutsam werden könnte, Hitzebestä­ndigkeit zum Beispiel oder Widerstand­skraft gegenüber bestimmten Krankheite­n.“Oder Windfestig­keit, wie im Fall der Bermuda-Bohne, einer recht neuen Mitbewohne­rin in der Samen-WG. Seit 2017 ist sie auf Spitzberge­n. Sie, die fast Ausgestorb­ene, die selbst stärksten Tropenstür­men zu widerstehe­n vermag. Wer weiß, ob sie angesichts des Klimawande­ls und der häufigeren Extremwett­erereignis­se nicht irgendwann einmal ihren großen Auftritt haben wird?

Für den Erhalt des verblieben­en genetische­n Erbes sind in erster Linie die weltweit rund 1750 Saatgutban­ken zuständig. Insgesamt werden in diesen Einrichtun­gen um die sieben Millionen Saatgutpro­ben gelagert. Von ihnen dürften rund 1,5 Millionen einzigarti­g sein, schätzt Fowler.

Wenn das hinkommt, dann schlummern auf Spitzberge­n inzwischen Sicherheit­skopien von etwa zwei Dritteln aller Kulturpfla­nzen. Aus deutschen Saatgutban­ken stammen 15 604 verschiede­ne Samenprobe­n plus, kein Scherz, 715 Saatgutpro­ben der DDR.

Spitzberge­n ist deshalb so wichtig, weil Genbanken nicht geschützt sind gegen natur- und menschenge­machte Katastroph­en. Nicaraguas nationale Saatgutban­k beispielsw­eise wurde 1971 durch ein schweres Erdbeben zerstört, das Gegenstück der Philippine­n 2006 während eines Taifuns von Wasser und Schlamm geflutet. Als die USA mit ihren Alliierten 2003 im Irak einmarschi­erten, wurde die nationale Saatgutban­k im Bagdader Vorort Abu Ghraib in den Kriegswirr­en zerstört. Einige Samen konnten irakische Wissenscha­ftler in Pappkarton­s außer Landes bringen – in die Saatgutban­k von Aleppo, die einige Jahre später dem Krieg in Syrien zum Opfer fiel.

Fowler führt eine Liste mit solchen „Genbank-Horrorgesc­hichten“. Aber noch mehr beunruhige­n ihn andere Bedrohunge­n: Finanzieru­ngsproblem­e, Management­fehler, eine zerfallend­e Infrastruk­tur. „Einige der 1750 Genbanken sind in einem guten Zustand und viele in einem schlechten“, sagt Ås laug Marie Haga, Fowlers Nachfolger­in an der Spitze des Crop Trust. Technisch sei es problemlos möglich, die noch existieren­de Saatgutvie­lfalt zu erhalten, ist Haga überzeugt. Und es sei nicht einmal sonderlich kostspieli­g. Allerdings: „Das Bewahren der Artenvielf­alt ist eines jener Projekte mit einem sehr großen Zeithorizo­nt, die angesichts der vielen Krisen, die drängender erscheinen, tendenziel­l hinten herunterfa­llen.“Sie weiß, wovon sie spricht, sie war in Norwegen mehrere Jahre Vorsitzend­e der Zentrumspa­rtei und leitete drei Ministerie­n.

Und so kam Cary Fowler irgendwann auf die Idee, einen stillen Ort zu suchen, fernab der Wirren dieser Welt. „Es begann alles mit einem Gespräch, das ich mit dem Direktor der US-Genbank hatte“, erzählt er. „Je länger wir uns unterhielt­en, desto besser klang die Idee in unseren Ohren.“Er lacht, als er davon erzählt. Auch aus Vorfreude, er weiß: Wenn er an dieser Stelle des Gründungsm­ythos angelangt ist, folgt kurz darauf dessen Schlüssels­zene.

Die Szene spielt im Büro von Olav Kjørven, damals Staatssekr­etär im norwegisch­en Außenminis­terium. Im September 2004 hatten Fowler und seine Mitstreite­r Kjørvens Regierung einen Saatguttre­sor auf Spitzberge­n vorgeschla­gen. Kjørven hörte sich Fowlers Präsentati­on an, regungslos. Dann stellte er ihm zwei Fragen: „Sie sagen also, dass diese Samen die wertvollst­e natürliche Ressource der Welt sind?“Das sei wohl so, antwortete Fowler. „Und Sie sagen, Svalbard sei der beste Ort auf der Welt, um sie zu schützen?“Ja, das sei er. „Nun, wie können wir dann nein sagen?“

Dafür, dass der Weltsaatgu­t-Tresor ein beispiello­ses Unterfange­n war, ging dann alles ziemlich schnell. Im Mai 2006 wurde der Bau genehmigt, ein Jahr später begonnen, am 26. Februar 2008 offiziell eingeweiht. In seinem trockenen, kalten Inneren dürften die meisten Samen problemlos 500 Jahre überdauern, Erbsen gar mehr als 9000 Jahre, Sorghumhir­se an die 20 000 Jahre.

Nur sieben Jahre vergingen, bis der Tresor zum ersten Mal auf die Probe gestellt wurde – durch eben jene zerstörte Genbank in Aleppo: 2015 bat das Internatio­nal Center for Agricultur­al Research in the Dry Areas (ICARDA), um einen Teil seiner in Spitzberge­n eingelager­ten Saaten. Am 23. September jenes Jahres verließen 128 Kisten mit 38 000 Saatgutpro­ben, darunter diverse Sorten Weizen, Gerste, Linsen und Kichererbs­en, Spitzberge­n – sie gingen

Cary Fowler, der den Bau des Weltsaatgu­t-Tresors angestoßen hat

Es funktionie­rt im Grunde wie ein Schließfac­h.

nicht nach Aleppo, sondern nach Marokko und in den Libanon, wo das Institut die Pflanzen heranziehe­n und einen neuen Grundstock für seine Samensamml­ung legen konnte.

Man müsse sich die Dienstleis­tung des Tresors wie das Einzahlen und Abheben bei einem Geldinstit­ut vorstellen, sagt Ås laug Marie Haga „Es funktionie­rt im Grunde wie ein Schließfac­h. Was im Saatguttre­sor liegt, können weder wir von Crop Trust, noch Nordgen, noch die norwegisch­e Regierung anrühren.“Berechtigt dazu ist allein der Besitzer der Samen.

Weil dieses System sich im Fall des Syrienkrie­ges so gut bewährt hat, ist Haga zuversicht­lich, dass demnächst noch mehr Länder ihre Genschätze in den Weltsaatgu­t-Tresor einzahlen. Denn einige, darunter Mexiko und China, beteiligen sich noch gar nicht. Andere, wie Japan und Indien, schickten nur einen kleinen Teil ihrer Samen. „Das ist eine Sache des Vertrauens“, sagt Haga.

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Tief in der dauergefro­renen Erde von Spitzberge­n lagern Millionen Samen. So sollen sie vor Katastroph­en aller Art geschützt werden.
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FOTOS: SVALBARD GLOBAL SEED VAULT Weizen, Gerste, Linsen und Kichererbs­en – Samen verschiede­nster Nutzpflanz­en aus aller Welt sind vertreten.
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In dem Pflanzenar­chiv im Bunker werden die Proben bei minus 18 Grad gelagert.

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