Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Barock – und noch viel mehr
Ein neuer Leitfaden nimmt Kunst in Oberschwaben von den Pfahlbauten bis heute in den Blick
Man kann sich ein Lächeln nicht verkneifen: Ausgerechnet der „Schweigeengel“aus dem Münster Zwiefalten prangt auf dem Einband des noch druckfrischen Buches von Eva Moser und Uwe Degreif über die Kunst in Oberschwaben. Wäre also eher Schweigen angebracht, weil diese Kunst nicht der Rede wert ist? Natürlich nicht. Gerade jene weiß schimmernde, ebenso elegante wie spirituell aufgeladene Engelsfigur mit dem Finger auf den Lippen, geschaffen vom begnadeten Riedlinger Barockbildhauer Johann Joseph Christian, beweist aufs Schönste, zu welchen Höhenflügen sich auch Künstler aus der Landschaft zwischen Donau und Bodensee, Schwarzwald und Iller aufschwangen.
Der neue, umfassende Band zur Kunst dieses Raumes war seit Langem ein Wunsch von Hiesigen, aber auch Reingeschmeckten. Dass er nun vorliegt, ist dem ehemaligen Vorsitzenden der Gesellschaft Oberschwaben (GO), Elmar Kuhn, zu verdanken. Er hatte eine Reihe von eher populär gehaltenen Darstellungen zu Landschaft, Geschichte und Kultur Oberschwabens angeregt, in denen sich die vielfältigen wissenschaftlichen Forschungserträge spiegeln sollten. Darauf weisen der Vorsitzende der als Herausgeber fungierenden GO, Thomas Zotz, und ihr Geschäftsführer Edwin Ernst Weber im Geleitwort ausdrücklich hin. Mit dem Thema Kunst wurde nun der Anfang gemacht, und die Autoren sind sinnvollerweise ausgewiesene Kenner aus der Region: Die langjährige Kunstreferentin des Bodenseekreises, Eva Moser, deckt die Zeit von der Prähistorie bis Ende des 19. Jahrhunderts ab; der stellvertretende Leiter des Museums Biberach, Uwe Degreif, übernimmt dann den Stab bis in die Jetztzeit.
Bogen über 6000 Jahre
Mit einem Foto des ersten ZeppelinFlugs am Bodensee von 1900 endet Eva Mosers Part. Den Anfang markiert ebenfalls ein Bild vom Bodensee: die vor 25 Jahren im Wasser vor Ludwigshafen gefundene, spektakuläre Ahnenwand aus der Pfahlbauzeit mit ihren teils stilisierten, teils naturalistischen Frauenfiguren. Dazwischen spannt sich der Bogen über fast 6000 Jahre hinweg, wobei vor allem eines deutlich wird: eine Einheit war diese Raumschaft nie. Territorial zergliedert, ohne Zentrum und deswegen innerer Konkurrenz sowie äußeren Einflüssen ausgesetzt – all das hinterließ auch Spuren im Kunstschaffen. Das große Verdienst der Autorin ist es, auf diesem Hintergrund den Beweis zu führen, dass einerseits Oberschwaben zwar keine genuine Kunstlandschaft ist und man deswegen besser nicht von „oberschwäbischer Kunst“spricht, sondern von „Kunst in Oberschwaben“. Dass dies aber andererseits den Rang vieler Kunstwerke überhaupt nicht schmälert, die in dieser Region von Einheimischen und Auswärtigen gefertigt wurden.
Die Uneinheitlichkeit des Oberlands macht es nicht gerade leicht, stringente Linien durch die Jahrhunderte zu ziehen. Aber Eva Moser schafft es dennoch, einen spannenden Parcours durch die kunsthistorischen Sparten aufzubauen – von der Architektur über die Skulptur bis zur Malerei, von der keltischen Heuneburg über die spätgotische Ulmer Schnitzkunst bis zu den Genrebildern oberschwäbischer Meister. Sorgsam flankiert werden die von großer Sachkenntnis getragenen Betrachtungen zur Kunst durch die Einbeziehung von Landesgeschichte, Geistesgeschichte, Glaubenswelt, Wirtschaftsgeschehen etc. So sind Zeitbezug sowie Zeitkolorit immer garantiert und erleichtern die Einordnung des künstlerischen Ertrags quer durch die Epochen – ob Frühgeschichte, Romanik, Gotik, Renaissance, Barock oder Historismus.
Allein für das Kapitel Barock – Oberschwabens Markenzeichen von Weltgeltung – setzt sie über 50 Seiten an. Auch wer jene Epoche gut zu kennen glaubt, lernt noch einiges hinzu bei dieser Rundreise zu repräsentativen Residenzen wie Altshausen, Achberg oder Tettnang und natürlich zu berühmten Klöstern und Kirchen wie Obermarchtal, Schussenried, Salem, Ochsenhausen, Wiblingen, Steinhausen, Birnau, Weingarten, Ottobeuren, Weissenau etc. Aber der Leser wird durch den enzyklopädischen Ansatz des Buches auch zu vielen, ebenfalls lohnenden Zielen geführt, die in den üblichen Highlight-Hochglanzbroschüren fehlen.
Manche Rösselsprünge, Wiederholungen, Überschneidungen ließen sich kaum vermeiden – angesichts der enormen, eher disparaten Stofffülle, der sich Moser bei ihrer Fleißarbeit stellen musste, allerdings verzeihbar. Man muss auch nicht mit allem einverstanden sein. Wenn etwa auf Seite 23 zu lesen ist, von einem alemannischen Dialekt zu reden, sei mehr Mythos als Realität, so darf man den Kopf schütteln. Aber Mosers Geschick beim Verzahnen von Schilderung und Wertung sowie nicht zuletzt ein nie gespreizter, flüssiger Stil lassen solche Mäkeleien schnell vergessen.
Innovationsschübe mit Verspätung
Uwe Degreif nimmt den Faden in ebenbürtiger Weise auf und spinnt ihn weiter durch das 20. Jahrhundert. Dabei gelingt ihm im letzten, auch sehr sinnfällig illustrierten Fünftel des Buches eine überzeugende Darstellung, warum künstlerische Innovationsschübe der Moderne in einer randständigen Region wie Oberschwaben ihren Niederschlag immer erst mit Verspätung fanden. Stichworte wie Impulse aus den Zentren, Kunstförderung in der Provinz, Verwerfungen der NS-Zeit, Neuanfang nach 1945, Selbstbescheidung der Sezession Oberschwaben, Expressiver Realismus und schließlich Öffnung in die Internationalität hinein – das sind einige der Stichworte, und sie alle werden schlüssig abgehakt.
Bei manchen Bildern des Bandes fehlt es etwas an Prägnanz und Brillanz – nur ein Beispiel: Cosmas Damian Assams hinreißende Fresken in Weingarten. Viele sehr schöne Fotos wiederum hätte man sich gerne größer gewünscht. Aber das hätte mehr Seiten bedingt, wäre der Handlichkeit abträglich gewesen – und damit auch dem für dieses lesenswerte Kompendium doch recht bescheidenen Preis.
Jedenfalls liegt nun ein Leitfaden mit ausführlichem Index vor, der dem Kunstfreund bei Fahrten kreuz und quer durchs Oberland gute Dienste leisten wird. Und dieses Oberland lohnt sich! Wo erlebt man schon einen solch singulären Engel wie in Zwiefalten! Vor dieser Lichtgestalt bleibt nur eines: Man wird einfach stumm. Man schweigt – weisungsgemäß.
Eva Moser, Uwe Degreif: Kunst in Oberschwaben. Von den Pfahlbauten bis heute. Belser Verlag. 256 Seiten. 120 farbige Abbildungen. 25 Euro.