Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Das Lied für die ganze Welt
Vor 200 Jahren wurde „Stille Nacht, heilige Nacht“zum ersten Mal gesungen – von armen Schiffersleuten in einer Kirche nahe Salzburg
die Gitarre galt damals als reines Wirtshausinstrument. Mohr allerdings war ein leutseliger Wirtshausgänger, was den Griff zum Saiteninstrument nahelegt. Der Mär, die Oberndorfer Orgel sei nicht funktionsfähig gewesen, weil eine Maus den Blasebalg angenagt hätte, widerspricht die Salzburger Stadtführerin Carola Schmidt. „Wahrscheinlich war es so, dass die kleine Orgel nur nicht den gesamten Kirchenraum ausfüllen konnte.“
Gewusst, dass Mohrs Taufpate Henker war und Gruber aus der Not heraus auch Mesner?
Die Lebenswege der Freunde verliefen sehr unterschiedlich. Joseph Mohr wurde am 11. Dezember 1792 als uneheliches Kind einer Salzburger Strickerin und eines fahnenflüchtigen Soldaten geboren. Sein Taufpate war der Salzburger Henker. „Nichts Ungewöhnliches damals“, bemerkt Schmidt am Taufbecken im Salzburger Dom. Ein Domvikar wurde auf den aufgeweckten Schüler Mohr aufmerksam, förderte den Bub und sorgte für seine hervorragende Ausbildung. Bis zu seiner Priesterweihe 1815 studierte Mohr Theologie an der Universität in Salzburg. Es folgten zahlreiche Stationen als Geistlicher im Salzburger Land. Seine Gemeindemitglieder brachten dem jungen Pfarrer viel Sympathie entgegen, die Obrigkeit war mit ihm und seinem Lebensstil allerdings nicht immer einverstanden. „Sein Wesen ist jugendlich, unbesonnen und hingebend – purschenmäßig geht er mit der langen Tabakpfeife, den Beutel an der Seite, über die Gassen“ist in einem Beschwerdebrief zu lesen. Kein Wunder, dass Mohr oft die Stelle wechseln musste. Am 4. Dezember 1848 starb er in Wagrain.
Franz Xaver Gruber war fünf Jahre älter als Mohr und Sohn einer Leinweberfamilie. In Arnsdorf trat Gruber seine erste Lehrerstelle an. Um sich zum kargen Gehalt etwas dazuzuverdienen, arbeitete der musikalisch begabte Gruber auch als Mesner und Organist. Schon damals begann er zu komponieren. Trotz seines pädagogischen Talents fühlte er sich immer mehr als Musiker denn als Lehrer und nahm deshalb die Stelle eines Chorregenten und Organisten an der Stadtpfarrkirche Hallein an, wo er 1863 starb. Die Freundschaft zwischen Mohr und Gruber dauerte ein Leben lang. „Gruber war vermutlich überhaupt der einzig wahre Freund, den Mohr hatte“, mutmaßt Tourismus-chef Konrad.
Gewusst, dass „Stille Nacht, heilige Nacht“in über 300 Sprachen übersetzt wurde und weltweit einen Bekanntheitsgrad zwischen 80 und 100 Prozent erreicht?
Von Kiruna bis Kapstadt, von Hawaii bis Hanoi: „Stille Nacht, heilige Nacht“gilt auf der ganzen Welt als das Weihnachtslied schlechthin, unabhängig von Religion und Kultur. Es wird angeblich von zwei Milliarden Menschen gesungen, gehört seit 2011 zum immateriellen Unesco-Kulturerbe und ist Österreichs erfolgreichster Exportartikel. Wobei viele nichts von der österreichischen Herkunft des Liedes hören wollen. „In Polen zum Beispiel sind die meisten Menschen fest davon überzeugt, dass ,Stille Nacht’ ein urpolnisches Weihnachtslied ist“, erzählt Konrad und liefert gleich die Erklärung mit: „Selten wurden die Zeilen wortgetreu übersetzt. Meistens wurde in der eigenen Sprache eine eigene Geschichte zu der Melodie verfasst.“Fakt aber ist, dass die damals international bekannte Tiroler Sängerfamilie Rainer 1822 das Lied dem russischen Zaren Alexander I. und dem österreichischen Kaiser Franz I. vorgesungen hat. Danach galt „Stille Nacht“lange Zeit als Tiroler Volkslied. 1873 wurde die Melodie unter dem Namen „Choral of Salzburg“in den USA bekannt. Christliche Missionare brachten das Lied schließlich bis nach Ostafrika, nach Neuseeland und Südamerika. Besondere Bedeutung erlangte es während des Ersten Weltkriegs. Deutsche, Briten, Franzosen und Belgier sangen es gemeinsam während des spontanen „Weihnachtsfriedens“am Heiligen Abend 1914 an der Front in Flandern. Anschließend spielten sie zusammen Fußball. 1941 stimmte US-Präsident Franklin D. Roosevelt das Lied gemeinsam mit seinem Verbündeten, dem britischen Premierminister Winston Churchill, auf der Terrasse des Weißen Hauses an. Bing Crosby machte „Silent Night“schließlich zum Pop-Ohrwurm.
Bis heute wird das Lied in Österreich fast ausschließlich am Heiligen Abend gesungen, zum Beispiel zu Hause vor der Bescherung oder wie anno dazumal nach der Christmette in der Kirche. „Wir gehen sehr sorgsam mit dem Lied um“, berichtet Konrad. „Stille Nacht, heilige Nacht“als wochenlange Dauerberieselung im Kaufhaus ist für ihn unerträglich und kommt in Österreich so gut wie gar nicht vor. Er selbst hat es sich in Oberndorf zur Aufgabe gemacht, die zahlreichen Touristen, die dort das Stille-Nacht-Museum und die StilleNacht-Gedenkkapelle besuchen, über die Geschichte des Liedes aufzuklären, gleichzeitig das Lied aber auch vor Kommerzialisierung und Verkitschung zu schützen. So verweigerte er zum Beispiel jüngst Amazon eine Drehgenehmigung in der Gedenkkapelle. Der Onlinehändler wollte dort einen Spot produzieren, in dem für seinen Sprachassistenten Alexa geworben wird.
Gewusst, wie das 200-jährige Jubiläum gefeiert wird?
● Natürlich feiert ganz Österreich das Weihnachtslied. Zeitungsverlage haben dicke Sondermagazine auf den Markt gebracht, Bücher sind erschienen, im Fernsehen laufen entsprechende Spielfilme und Dokumentationen, auch die Landesausstellung in Salzburg und acht anderen Orten widmet sich noch bis zum 3. Februar dem berühmten Weihnachtslied. In der Mozartstadt selbst gibt es selbstverständlich „Stille-Nacht“-Führungen, sogar ein Musical wurde inszeniert und in der Adventszeit im Festspielhaus aufgeführt. „Das hat mit der Geschichte um das Lied allerdings überhaupt nichts zu tun“, stellt Stadtführerin Carola Schmidt fest. Die Entstehung des Liedes sehr wohl zum Inhalt hatte dagegen heuer das alljährliche Adventssingen im Salzburger Festspielhaus.
Auch Oberndorf ist längst fürs Jubiläum gerüstet. Das ganze Jahr über schon strömen die Touristen. An Heiligabend selbst werden vermutlich mehr als die üblichen 4000 bis 5000 Menschen aus Oberndorf und der ganzen Welt der Gedenkandacht in der kleinen Kapelle lauschen, die in den 1930er-Jahren mit Spendengeldern auf dem Schutthaufen der ehemaligen St.-Nikola-Kirche gebaut wurde. St. Nikola selbst wurde nach einem Hochwasser 1899 abgerissen. In, vor und auf den Hügeln rund um die kleine Gedenkkapelle werden die Menschen anschließend zusammen, aber jeder in seiner Sprache alle sechs Strophen von „Stille Nacht, heilige Nacht“singen, denn ...
Gewusst, dass „Stille Nacht, heilige Nacht“aus sechs Strophen besteht, meist aber nur die erste, zweite und sechste gesungen werden?