Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Japanische Wahlverwandtschaften
„Shoplifters“: Die Geschichte einer kleinkriminellen Familie als Hort der Menschlichkeit
Ein Sohn und sein Vater gehen in einen Supermarkt. Sie verständigen sich ohne Worte, geben sich Handzeichen. Ist einer von ihnen taubstumm? Nein! Die beiden sind auf Diebestour. Man sieht, wie geschickt sie zusammenarbeiten, man versteht: Das ist Routine.
Als die beiden mit vollen Taschen nach Hause kommen, lernt man auch den Rest der Familie kennen. Sie besteht aus drei Generationen und sie leben zu sechst auf engem Raum in einem kleinen, kaum drei Zimmer umfassenden Appartement zusammen. Der Vater arbeitet auf dem Bau, die Mutter in einer Reinigung. Sie haben wenig Geld, aber sie sind glücklich. Zueinander sind sie überaus warmherzig. Sie kümmern sich umeinander. Es gibt zwar kleine Streitereien, spürbare Unzufriedenheit – Familie halt. Aber insgesamt ist ihr Verhältnis von Großzügigkeit geprägt, von Humanität und Liebe.
Nach einer ihrer nächsten Diebestour begegnen die beiden in einer kalten Winternacht einem kleinen Familie als Wahlverwandtschaft: In „Shoplifters“finden Außenseiter zusammen.
Mädchen, das vollkommen verwahrlost ist. Kurzerhand tun sie, was sie am besten können: Sie „klauen“das Mädchen und nehmen es für eine warme Mahlzeit mit nach Hause. Und dann bleibt es einfach da. Stück für Stück versteht man: Die ganze Familie ist eine einzige Wahlverwandschaft. Sie waren Obdachlose, Verwahrloste, Alleingelassene, und haben sich zusammengefunden.
Mithilfe von kleinen Betrügereien steigern sie ihr Einkommen und leben glücklich zusammen. Doch man ahnt: Es wird nicht ewig derart glücklich weitergehen – ein bittersüßer Ton durchzieht die Verhältnisse.
Ein Land und seine Widersprüche
Der Japaner Hirokazu Kore-eda hat für „Shoplifters“, also „Ladendiebe“, im Mai in Cannes die Goldene Palme gewonnen. Das war hochverdient für diesen Regisseur, der seit 20 Jahren ausgezeichnete Filme wie „Nobody Knows“und „Our Little Sister“aneinanderreiht.
Nur wenige Regisseure sind ähnlich große Humanisten wie Koreeda, kaum einer hat die Fähigkeit ähnlich gut mit Kindern zusammenzuarbeiten, und das diffizile, in jedem Fall einmalige Geflecht einer Familie auf die Leinwand zu bringen. Meisterhaft leicht und subtil und mit viel Poesie erzählt der japanische Regisseur vom Leben und der Liebe und den Menschen in ihm. Immer ist in seinen Filmen auch die Gesellschaft, das Japan von heute mit seinen Widersprüchen präsent. „Shoplifters“erzählt von der Doppelmoral seines Heimatlandes. Auf der einen Seite zeigt er eine gefühlskalte, aber sich sozial korrekt verhaltende Gesellschaft. Auf der anderen Seite die Wärme einer kleinkriminellen Familie in prekären Verhältnissen. Das ist ein universaler Befund, der für viele Länder der westlichen Konsumgesellschaften, nicht nur für Japan gilt.
Am Ende bleibt eine Botschaft hängen: Familie ist durch Liebe gekennzeichnet und durch Loyalität, durch gemeinsamen Spaß und durch Verlässlichkeit. Um Blut, Gene und Abstammung geht es nicht. Wahlverwandtschaften sind dicker als Blut.
Shoplifters – Familienbande. Regie:Hirokazu Kore-eda. Mit Rirî Furankî, Sakura Ando, Mayu Matsuoka. Japan 2018, 121 Min., FSK ab 12.