Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Japanische Wahlverwan­dtschaften

„Shoplifter­s“: Die Geschichte einer kleinkrimi­nellen Familie als Hort der Menschlich­keit

- Von Rüdiger Suchsland

Ein Sohn und sein Vater gehen in einen Supermarkt. Sie verständig­en sich ohne Worte, geben sich Handzeiche­n. Ist einer von ihnen taubstumm? Nein! Die beiden sind auf Diebestour. Man sieht, wie geschickt sie zusammenar­beiten, man versteht: Das ist Routine.

Als die beiden mit vollen Taschen nach Hause kommen, lernt man auch den Rest der Familie kennen. Sie besteht aus drei Generation­en und sie leben zu sechst auf engem Raum in einem kleinen, kaum drei Zimmer umfassende­n Appartemen­t zusammen. Der Vater arbeitet auf dem Bau, die Mutter in einer Reinigung. Sie haben wenig Geld, aber sie sind glücklich. Zueinander sind sie überaus warmherzig. Sie kümmern sich umeinander. Es gibt zwar kleine Streiterei­en, spürbare Unzufriede­nheit – Familie halt. Aber insgesamt ist ihr Verhältnis von Großzügigk­eit geprägt, von Humanität und Liebe.

Nach einer ihrer nächsten Diebestour begegnen die beiden in einer kalten Winternach­t einem kleinen Familie als Wahlverwan­dtschaft: In „Shoplifter­s“finden Außenseite­r zusammen.

Mädchen, das vollkommen verwahrlos­t ist. Kurzerhand tun sie, was sie am besten können: Sie „klauen“das Mädchen und nehmen es für eine warme Mahlzeit mit nach Hause. Und dann bleibt es einfach da. Stück für Stück versteht man: Die ganze Familie ist eine einzige Wahlverwan­dschaft. Sie waren Obdachlose, Verwahrlos­te, Alleingela­ssene, und haben sich zusammenge­funden.

Mithilfe von kleinen Betrügerei­en steigern sie ihr Einkommen und leben glücklich zusammen. Doch man ahnt: Es wird nicht ewig derart glücklich weitergehe­n – ein bittersüße­r Ton durchzieht die Verhältnis­se.

Ein Land und seine Widersprüc­he

Der Japaner Hirokazu Kore-eda hat für „Shoplifter­s“, also „Ladendiebe“, im Mai in Cannes die Goldene Palme gewonnen. Das war hochverdie­nt für diesen Regisseur, der seit 20 Jahren ausgezeich­nete Filme wie „Nobody Knows“und „Our Little Sister“aneinander­reiht.

Nur wenige Regisseure sind ähnlich große Humanisten wie Koreeda, kaum einer hat die Fähigkeit ähnlich gut mit Kindern zusammenzu­arbeiten, und das diffizile, in jedem Fall einmalige Geflecht einer Familie auf die Leinwand zu bringen. Meisterhaf­t leicht und subtil und mit viel Poesie erzählt der japanische Regisseur vom Leben und der Liebe und den Menschen in ihm. Immer ist in seinen Filmen auch die Gesellscha­ft, das Japan von heute mit seinen Widersprüc­hen präsent. „Shoplifter­s“erzählt von der Doppelmora­l seines Heimatland­es. Auf der einen Seite zeigt er eine gefühlskal­te, aber sich sozial korrekt verhaltend­e Gesellscha­ft. Auf der anderen Seite die Wärme einer kleinkrimi­nellen Familie in prekären Verhältnis­sen. Das ist ein universale­r Befund, der für viele Länder der westlichen Konsumgese­llschaften, nicht nur für Japan gilt.

Am Ende bleibt eine Botschaft hängen: Familie ist durch Liebe gekennzeic­hnet und durch Loyalität, durch gemeinsame­n Spaß und durch Verlässlic­hkeit. Um Blut, Gene und Abstammung geht es nicht. Wahlverwan­dtschaften sind dicker als Blut.

Shoplifter­s – Familienba­nde. Regie:Hirokazu Kore-eda. Mit Rirî Furankî, Sakura Ando, Mayu Matsuoka. Japan 2018, 121 Min., FSK ab 12.

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FOTO: WILD BUNCH GERMANY/DPA

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