Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Gespannt auf viele neue Kapitel
Kira Grünberg war Österreichs beste Stabhochspringerin, nach ihrer Querschnittslähmung wurde sie Politikerin
KEMATEN - Es gibt Nächte, da ist Kira Grünberg wieder zu Fuß unterwegs. Wenn sie schläft. In ihren Träumen. Manchmal läuft sie über eine Sommerwiese, eine saftig grüne Tiroler Bergweide, setzt sich hin für eine Pause, auf eine Holzbank vor einer Hütte, mit Blick auf schroffe Felskanten droben in der Höhe. Hört Kuhglocken bimmeln, wandert weiter. Spürt den Boden unter sich. Das weiche Gras. Die Erde. Bis zum Morgen.
„Wenn ich aufwache, dann fühle ich sofort, dass es nur ein Traum war. Eine Illusion.“
Dann weiß sie, dass sie zurück ist in der Wirklichkeit. Nicht mehr aufstehen kann, nicht mehr gehen und laufen. Dass es stattdessen ewig dauert und viel Kraft kostet, bis sie sich in den Rollstuhl gehangelt hat.
Kira Grünberg, einst Österreichs beste Stabhochspringerin, hat sich mit ihrer Behinderung abgefunden, dreieinhalb Jahre nach ihrem folgenschweren Trainingsunfall. Eine 25jährige, fröhliche junge Frau, die Frieden geschlossen hat mit ihrem Schicksal, ihrer Querschnittslähmung. Kira Grünberg, die damals aus vier Metern Höhe mit Genick und Rücken voran auf den Boden krachte und sich den fünften Halswirbel brach, sagt: „Ich empfinde Dankbarkeit. Ich bin sehr weich gefallen.“
Kematen im Westen Innsbrucks, 3000 Einwohner, Heimat von Kira Grünberg. Treffen in einem geräumigen Café, moderner Neubau, viel Platz zwischen den Tischen. Hilft beim Manövrieren mit dem Rollstuhl. Das Lokal liegt knapp unter Straßenniveau, früher fiel ihr das gar nicht auf, die drei Stufen vom Gehsteig hinab zum Eingang, lächerlich, die übersprang sie. Heute sind die drei Stufen ein Hindernis, unüberwindlich. Heute nimmt sie die Rampe daneben.
Kira Grünberg sitzt vor einer heißen Schokolade, sie rührt mit einem Löffel darin herum, dann führt sie den Löffel zum Mund, vor zwei Jahren, sagt sie, hat sie das noch nicht geschafft, einer dieser kleinen Fortschritte, den Alltag wieder besser zu meistern. Fingernägel lackieren. Haare föhnen. Solche Dinge.
Früher, als Sportlerin, ging es darum, sich zentimeterweise zu verbessern. „Heute“, sagt sie, „sind die Fortschritte gefühlte Millimeter. Wenn überhaupt.“In der Adventszeit formte sie beim Plätzchenbacken daheim im Elternhaus erstmals wieder Vanillekipferl. Ein Erfolg, so winzig und so wichtig.
Die Erinnerungen an den Unfall vom 30. Juli 2015 in Innsbruck sind noch immer frisch, sicher auch deswegen, weil sie sich später oft den Film anschaute. Ihre Mutter hatte damals die Kamera laufen lassen, fürs Videostudium, für den letzten technischen Feinschliff, drei Wochen vor der WM in Peking. Acht Schritte Anlauf, die Höhe vier Meter, für sie, die im Jahr zuvor den bis heute gültigen Landesrekord von 4,45 Metern aufstellte, mehr etwas zum Warmhüpfen.
Auch nicht schwerer als die drei Stufen runter ins Café.
Aber der Stab bog sich nach dem Einstich nicht, wie er sollte, auf 90 Grad, sondern nur auf etwa 75. Es fehlte der Schwung, um über die Höhe zu kommen, dahinter auf der Matte zu landen.
„Als ich ganz oben war, hab ich gemerkt, ich schaff ’s nicht.“Kira Grünberg fiel zurück, knallte mit dem Genick auf die hinteren Kante des Einstichkastens. Und wusste sofort, das war’s. „Meine Eltern kamen angerannt, mein Vater hat mir noch die
Schuhe ausgezogen. Aber ich habe die Beine nicht mehr gespürt und mir war klar: Jetzt bist du gelähmt.“
Lange in der Klinik, lange in der Reha, groß war das Mitgefühl. Prominente Besucher kamen ans Bett, von Bundespräsident Heinz Fischer bis Diskus-Olympiasieger Robert Harting, sie erhielt in den Monaten danach Interviewanfragen aus 60 Ländern, schrieb ihre Autobiografie, berührte mit ihrem Schicksal die Menschen. Bekam uneingeschränkte Sympathie.
Bis 2017. Da ging Kira Grünberg in die Politik.
Kandidierte bei der Nationalratswahl für die ÖVP von Sebastian Kurz, kam über die Tiroler Landesliste ins Parlament, als Behindertenbeauftragte der Partei. Aber schon bald wurde es ungemütlich. Wegen der Auto-Affäre, als sie nach der Wahl zur Abgeordneten von Opel einen behindertengerechten Wagen geschenkt bekam, Wert 40 000 Euro. Auch wenn sie sich damals wie heute gegen die Vorwürfe wehrt: Nein, das Angebot von Opel kam schon 2015. Und ja, der Zeitpunkt der Übergabe war in der Tat unglücklich: Seitdem spürt sie auch rauen Gegenwind.
Seitdem verfolgen sie auch Österreichs Medien kritischer. Dass sie von Kurz wohl nur des Namens wegen auf die Liste gesetzt wurde, war zu lesen, mehr so als prominenter Köder, um der ÖVP zu Stimmen zu verhelfen. Und ihm, dem Kurz, zur Kanzlerschaft. Kira Grünberg spricht vom harten Politikgeschäft und dass sie sich nicht unterkriegen lassen, lieber weiterkämpfen will für ihre Ziele. Mehr Betreuung und mehr Hilfe für ein selbstbestimmteres Leben von Behinderten, das will sie erreichen. In Tirol, in Österreich, in der EU. Und dass die fünfjährige Wahlperiode keine Episode bleiben soll. „Langfristig sehe ich meine Zukunft in der Politik.“
Und die Sache mit der Dankbarkeit? Wofür bitte? „Dafür“, sagt sie, „dass all die Erfahrungen seit dem Unfall mein Leben bereichert haben, meinen Horizont erweitert.“Außerdem hat es eh so kommen müssen, sagt sie, unweigerlich und unausweichlich. Ihre Kakaotasse ist schon leer, da spricht Kira Grünberg von dem einen, der irgendwo die Fäden zieht auf dieser Welt, über dieser Welt, irgendwo in diesem Universum. So wie in dem einen Film, der ihr sehr gut gefallen hat. „Der Plan“, 2011, Matt Damon, Emily Blunt. Die Kernthese: Der Lebensverlauf eines jeden Menschen ist vorbestimmt. „Jeder bekommt ein Lebensbuch mit auf den Weg“, sagt sie. „Und die Kapitel stehen von Anfang an fest.“
Kira Grünberg ist gespannt auf die nächsten Abschnitte in ihrem Buch, eines der nächsten Kapitel soll von einer eigenen Familie handeln. Irgendwann will sie selbst Kinder haben. Sie großziehen. Sie aufwachsen sehen. Und ihnen zuschauen, wie sie über Wiesen laufen.
„Ich empfinde Dankbarkeit. Ich bin sehr weich gefallen.“
„All die Erfahrungen seit dem Unfall haben mein Leben bereichert.“