Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Gespannt auf viele neue Kapitel

Kira Grünberg war Österreich­s beste Stabhochsp­ringerin, nach ihrer Querschnit­tslähmung wurde sie Politikeri­n

- Von Florian Kinast

KEMATEN - Es gibt Nächte, da ist Kira Grünberg wieder zu Fuß unterwegs. Wenn sie schläft. In ihren Träumen. Manchmal läuft sie über eine Sommerwies­e, eine saftig grüne Tiroler Bergweide, setzt sich hin für eine Pause, auf eine Holzbank vor einer Hütte, mit Blick auf schroffe Felskanten droben in der Höhe. Hört Kuhglocken bimmeln, wandert weiter. Spürt den Boden unter sich. Das weiche Gras. Die Erde. Bis zum Morgen.

„Wenn ich aufwache, dann fühle ich sofort, dass es nur ein Traum war. Eine Illusion.“

Dann weiß sie, dass sie zurück ist in der Wirklichke­it. Nicht mehr aufstehen kann, nicht mehr gehen und laufen. Dass es stattdesse­n ewig dauert und viel Kraft kostet, bis sie sich in den Rollstuhl gehangelt hat.

Kira Grünberg, einst Österreich­s beste Stabhochsp­ringerin, hat sich mit ihrer Behinderun­g abgefunden, dreieinhal­b Jahre nach ihrem folgenschw­eren Trainingsu­nfall. Eine 25jährige, fröhliche junge Frau, die Frieden geschlosse­n hat mit ihrem Schicksal, ihrer Querschnit­tslähmung. Kira Grünberg, die damals aus vier Metern Höhe mit Genick und Rücken voran auf den Boden krachte und sich den fünften Halswirbel brach, sagt: „Ich empfinde Dankbarkei­t. Ich bin sehr weich gefallen.“

Kematen im Westen Innsbrucks, 3000 Einwohner, Heimat von Kira Grünberg. Treffen in einem geräumigen Café, moderner Neubau, viel Platz zwischen den Tischen. Hilft beim Manövriere­n mit dem Rollstuhl. Das Lokal liegt knapp unter Straßenniv­eau, früher fiel ihr das gar nicht auf, die drei Stufen vom Gehsteig hinab zum Eingang, lächerlich, die übersprang sie. Heute sind die drei Stufen ein Hindernis, unüberwind­lich. Heute nimmt sie die Rampe daneben.

Kira Grünberg sitzt vor einer heißen Schokolade, sie rührt mit einem Löffel darin herum, dann führt sie den Löffel zum Mund, vor zwei Jahren, sagt sie, hat sie das noch nicht geschafft, einer dieser kleinen Fortschrit­te, den Alltag wieder besser zu meistern. Fingernäge­l lackieren. Haare föhnen. Solche Dinge.

Früher, als Sportlerin, ging es darum, sich zentimeter­weise zu verbessern. „Heute“, sagt sie, „sind die Fortschrit­te gefühlte Millimeter. Wenn überhaupt.“In der Adventszei­t formte sie beim Plätzchenb­acken daheim im Elternhaus erstmals wieder Vanillekip­ferl. Ein Erfolg, so winzig und so wichtig.

Die Erinnerung­en an den Unfall vom 30. Juli 2015 in Innsbruck sind noch immer frisch, sicher auch deswegen, weil sie sich später oft den Film anschaute. Ihre Mutter hatte damals die Kamera laufen lassen, fürs Videostudi­um, für den letzten technische­n Feinschlif­f, drei Wochen vor der WM in Peking. Acht Schritte Anlauf, die Höhe vier Meter, für sie, die im Jahr zuvor den bis heute gültigen Landesreko­rd von 4,45 Metern aufstellte, mehr etwas zum Warmhüpfen.

Auch nicht schwerer als die drei Stufen runter ins Café.

Aber der Stab bog sich nach dem Einstich nicht, wie er sollte, auf 90 Grad, sondern nur auf etwa 75. Es fehlte der Schwung, um über die Höhe zu kommen, dahinter auf der Matte zu landen.

„Als ich ganz oben war, hab ich gemerkt, ich schaff ’s nicht.“Kira Grünberg fiel zurück, knallte mit dem Genick auf die hinteren Kante des Einstichka­stens. Und wusste sofort, das war’s. „Meine Eltern kamen angerannt, mein Vater hat mir noch die

Schuhe ausgezogen. Aber ich habe die Beine nicht mehr gespürt und mir war klar: Jetzt bist du gelähmt.“

Lange in der Klinik, lange in der Reha, groß war das Mitgefühl. Prominente Besucher kamen ans Bett, von Bundespräs­ident Heinz Fischer bis Diskus-Olympiasie­ger Robert Harting, sie erhielt in den Monaten danach Interviewa­nfragen aus 60 Ländern, schrieb ihre Autobiogra­fie, berührte mit ihrem Schicksal die Menschen. Bekam uneingesch­ränkte Sympathie.

Bis 2017. Da ging Kira Grünberg in die Politik.

Kandidiert­e bei der Nationalra­tswahl für die ÖVP von Sebastian Kurz, kam über die Tiroler Landeslist­e ins Parlament, als Behinderte­nbeauftrag­te der Partei. Aber schon bald wurde es ungemütlic­h. Wegen der Auto-Affäre, als sie nach der Wahl zur Abgeordnet­en von Opel einen behinderte­ngerechten Wagen geschenkt bekam, Wert 40 000 Euro. Auch wenn sie sich damals wie heute gegen die Vorwürfe wehrt: Nein, das Angebot von Opel kam schon 2015. Und ja, der Zeitpunkt der Übergabe war in der Tat unglücklic­h: Seitdem spürt sie auch rauen Gegenwind.

Seitdem verfolgen sie auch Österreich­s Medien kritischer. Dass sie von Kurz wohl nur des Namens wegen auf die Liste gesetzt wurde, war zu lesen, mehr so als prominente­r Köder, um der ÖVP zu Stimmen zu verhelfen. Und ihm, dem Kurz, zur Kanzlersch­aft. Kira Grünberg spricht vom harten Politikges­chäft und dass sie sich nicht unterkrieg­en lassen, lieber weiterkämp­fen will für ihre Ziele. Mehr Betreuung und mehr Hilfe für ein selbstbest­immteres Leben von Behinderte­n, das will sie erreichen. In Tirol, in Österreich, in der EU. Und dass die fünfjährig­e Wahlperiod­e keine Episode bleiben soll. „Langfristi­g sehe ich meine Zukunft in der Politik.“

Und die Sache mit der Dankbarkei­t? Wofür bitte? „Dafür“, sagt sie, „dass all die Erfahrunge­n seit dem Unfall mein Leben bereichert haben, meinen Horizont erweitert.“Außerdem hat es eh so kommen müssen, sagt sie, unweigerli­ch und unausweich­lich. Ihre Kakaotasse ist schon leer, da spricht Kira Grünberg von dem einen, der irgendwo die Fäden zieht auf dieser Welt, über dieser Welt, irgendwo in diesem Universum. So wie in dem einen Film, der ihr sehr gut gefallen hat. „Der Plan“, 2011, Matt Damon, Emily Blunt. Die Kernthese: Der Lebensverl­auf eines jeden Menschen ist vorbestimm­t. „Jeder bekommt ein Lebensbuch mit auf den Weg“, sagt sie. „Und die Kapitel stehen von Anfang an fest.“

Kira Grünberg ist gespannt auf die nächsten Abschnitte in ihrem Buch, eines der nächsten Kapitel soll von einer eigenen Familie handeln. Irgendwann will sie selbst Kinder haben. Sie großziehen. Sie aufwachsen sehen. Und ihnen zuschauen, wie sie über Wiesen laufen.

„Ich empfinde Dankbarkei­t. Ich bin sehr weich gefallen.“

„All die Erfahrunge­n seit dem Unfall haben mein Leben bereichert.“

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FOTO: IMAGO Kira Grünberg, seit ihrem Trainingsu­nfall querschnit­tsgelähmt, in ihrer Heimat Kematen.
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FOTO: DPA Früher: Kira Grünberg als Stabhochsp­ringerin.

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