Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Jelineks Spurensuche im Schnee
Das Stück „Schnee Weiss“behandelt die Missbrauchsfälle im Österreichischen Skiverband
KÖLN - In den Skiinternaten und Trainingslagern seien sie „Freiwild“gewesen, hat die ehemalige Spitzensportlerin Nicola Werdenigg Anfang des Jahres gegenüber Tageszeitungen zu Protokoll gegeben. Werdenigg war österreichische Meisterin und wurde 1976 bei den Olympischen Winterspielen in Innsbruck vierte im Abfahrtslauf. Elfriede Jelinek, die Grande Dame des Theaters, hat schnell reagiert und mit „Schnee Weiss“ein Textgebirge zum alpinen Missbrauch geschrieben. Die Uraufführung gab es am Wochenende am Schauspiel Köln.
Während ihrer Zeit, so Nicola Werdenigg, sei sexualisierte Gewalt und systematischer Machtmissbrauch weit verbreitet gewesen. Sie selbst sei von einem Mannschaftskollegen vergewaltigt worden und gehe jetzt an die Öffentlichkeit, „um jungen Menschen die Kraft zu geben, sich im Fall der Fälle mitzuteilen“. Werdeniggs Aussagen wurden durch eine zweite Skirennfahrerin bestätigt. Konkret benannt wurde der heute 86-jährige Herrenabfahrtstrainer Karl „Charly“Kahr. Und die Skilegende Toni Sailer.
Das alles ist verjährt. Die Wochen nach Nicola Werdeniggs Gang in die Öffentlichkeit offenbarten allerdings, dass es im alpinen Spitzensport Österreichs ein systemisches Missbrauchsproblem gibt, vergleichbar dem der katholischen und evangelischen Kirche. Bei einem inzwischen eingerichteten Opfer-Notruf gingen 114 Meldungen ein. Die Tatvorwürfe reichen, so die österreichische Tageszeitung „Kurier“, von „Gruppenvergewaltigung, Vergewaltigung, Missbrauch von Kindern bis 14 Jahren, Sex mit schutzbefohlenen Minderjährigen über Stalking, Sexismus und psychische Gewalt bis zu ungerechtfertigten Wettkampfsperren“.
Gefährliche geschlossene Systeme
Um diesen Zusammenhang geht es der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die auch eine eminent politische Autorin ist. Mit „Am Königsweg“widmete sie sich zuletzt dem US-amerikanischen Politrambo im Weißen Haus und wurde von den deutschsprachigen Kritikern als Autorin des Jahres geehrt. Wenn sie jetzt für ihr neuestes Stück den sprechenden Titel „Schnee Weiss“wählt, signalisiert sie schon damit, um was er ihr geht: Um dieses „Davon wussten wir nichts“, mit dem der Österreichische Skiverband über die Missbrauchs-Vorwürfe hinweggeht und so tut, als sei der alpine Spitzensport eine schneeweisse Insel der Unschuldigen. Jelinek geht es um den Skandal der Vertuschung und der damit verbundenen Ermöglichung weiterer Missbrauchsfälle in geschlossenen Systemen wie der Kirche und in Sportverbänden.
Um die Zusammenhänge aufzudecken, mischt sie Metaphern des alpinen Skisports und der christlichen Heilslehre. Sie macht deutlich: Minderjährige, Heranwachsende, Frauen und Männer sind nur dann dem kriminellen Begehren in geschlossenen Systemen ausgeliefert, wenn die Täter davon ausgehen können, im System sicher zu sein. In diesem speziellen Fall, so Jelinek, können sie darauf zählen, dass niemand wagt, die „heilige Kuh“des alpinen Spitzensports anzutasten: „Fang ein die Kühe und das Gold dazu! Silber oder Bronze gehn auch.“Das Problem sei aber, „dass die ganze Herde diskreditiert ist und keinen Kredit mehr bekommt und dass gegen Unbekannt ermittelt wird, was sinnlos ist, denn die Namen sind ja bekannt!“.
Jelineks neuester Text ist wieder ein hundert Seiten langes Textgebirge und wird von Stefan Bachmann, dem Intendanten des Schauspiel Köln, in einer gekürzten Fassung von zwei Stunden zur Uraufführung gebracht. Das hat Vor- und Nachteile. Durch die Fokussierung auf die Jelinek-Kritik des Österreichischen Skiverbands nimmt Bachmann dem Text etwas von seiner archaischen Sprachwucht. Andererseits wartet die Uraufführung aber doch mit Bildern auf, die dem Theaterabend nicht nur eine reelle Erdung geben, sondern auch mythologische Tiefe.
Zuerst turnen Simon Kirsch, Lola Klamroth, Nikolay Sidorenko und Sabine Waibel mit zentnerschweren Skischuhen und in alpiner Skikleidung auf einem kleinen Abfahrtshügel. Von dem fahren sie, Jelinek-Text sprechend, dann auch tatsächlich ab. Etwas später kommt Peter Knaack und performt oben auf dem Hügel einen Ski-Jesus, der sich beschwert, auch er sei ja ein Opfer, hätte damit aber nie an die Öffentlichkeit gehen können.
Knaack ist ein exzellenter Highspeed-Sprecher und steht in einer Reihe mit Margot Gödrös, die Textpartien übernimmt, in denen ein scheinbar allwissender Gott jegliche Kritik von sich abperlen lässt. So kann man sich Sportfunktionäre vorstellen. Dass die Autorin und der Regisseur das Thema öffnen und Strukturen thematisieren, ist auch deshalb bemerkenswert, weil es nicht nur um den Missbrauch im alpinen Spitzensport geht. Eines der jüngeren Beispiele ist der Skandal rund um Lassar Nassar, dem inzwischen rechtskräftig verurteilten Arzt des amerikanischen Turnverbandes. Er hat über Jahre hinweg junge Sportlerinnen sexuell missbraucht.