Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Der Knüller

- Von Roswitha Stumpp

Wohin mit dem ganzen Berg von Geschenkpa­pier, das die Bescherung hinterlass­en hat? Ab in die Papiertonn­e? Verbrennen? Oder bügeln fürs nächste Jahr? Als ich noch überlegte, rief die beste Freundin an. Die Freundin ist mit einer großen Familie gesegnet und an Weihnachte­n ist bei ihr immer einiges los. „Stell‘ dir vor“, sagte sie, „als ich gerade fertig war mit Christbaum­aufstellen, kam in einem unbeobacht­eten Moment unser kleiner schwarzer Kater reingewits­cht, stürzte sich auf den Baum und erlegte zwei große goldene Kugeln. Kaum war der Schaden beseitigt und die Geschenke schön verteilt unterm Christbaum, kam dann die Familie. Große Begrüßung! Keiner merkte, dass der Kleinste angefangen hatte, die Geschenke auszupacke­n. Mindestens bei der Hälfte der Päckchen, hatte er, bis es entdeckt wurde, schon das Papier abgerissen. Für sein Bilderbuch und den Traktor zeigte er nur wenig Interesse. Stattdesse­n saß er stillvergn­ügt den ganzen Abend auf einem großen Haufen Geschenkpa­pier, riss es in kleine Stücke und zerknüllte es dann. Ist das denn normal?“– „Ich kann dich beruhigen“, sagte ich, „neulich las ich über einen Doktorande­n an der Harvard Universitä­t, der nichts anderes tat, als Papier und Folie zu zerknüllen. Er wollte unbedingt wissen, ob und wie unterschie­dlich die dabei entstehend­en Knicke und Falze sind. Er hat also zerknüllt, was das Zeug hielt, anschließe­nd das Zerknitter­te gemessen und dabei festgestel­lt, dass die Gesamtläng­e der Knicke und Linien fast gleich sind. Anscheinen­d zeigt alles, was knittert, wie man bereits weiß, ähnliche Muster: der Faltenwurf von Kleidern, die DNA im Zellkern, die Platten der Erdkruste. Dein Enkel ist seiner Zeit also weit voraus. Wer weiß: Vielleicht wird er sogar mal Professor der neuen Zerknüllun­gswissensc­haft.“Zerknüllen oder nicht, das ist die Frage. Oder vielleicht gar nichts erst verpacken?

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