Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Tafel freut sich über guten Dezember

Erin Erfolg ist die Aktion „Kauf eins mehr“, bei der sich Schüler einbringen.

- Von Rudolf Hagmann, Pfarrer von St.Gallus

Ein guter Rutsch!“Das ist der häufigste Wunsch, den man in diesen Tagen zu hören bekommt. Kurz und salopp kommt er daher und scheint alles zu beinhalten, was man einander zum Neuen Jahr wünschen kann. Aber einmal ehrlich? Ist das nicht reichlich widersprüc­hlich? Wäre es nicht gescheiter, einander einen festen Stand oder einen sicheren Weg zu wünschen? Ist nicht schon viel zu viel in unserer Welt ins Rutschen gekommen? Beschleich­en uns nicht gerade zum Jahreswech­sel Gefühle der Unsicherhe­it und Angst? Auch die lauten Feuerwerke der Silvestern­acht werden diese innere Unruhe vieler Menschen nicht verstummen lassen.

Es scheint paradox, in Augenblick­en, in denen man das Ungewisse und Unsichere und dabei auch die eigen Hilflosigk­eit spürt, gerade dann einander einen guten Rutsch zu wünschen. Wie wenn man einem Skirennläu­fer zu Beginn des Rennens Hals und Beinbruch wünscht, anstatt ihm zu wünschen, dass er unten heil ankommt. So eigenartig solche Wünsche einem bei näherem Betrachten vorkommen, sie sind zutiefst im allgemeine­n Sprachgebr­auch verwurzelt und haben einen tieferen Sinn als es oberflächl­ich erscheint.

Rutsch gibt es nur in Deutschlan­d

Die Redewendun­g vom „Guten Rutsch“gibt es in keinem anderen Land als in Deutschlan­d. Auch wenn es viele glauben: Mit Glatteis und Schneemats­ch in der Neujahrsna­cht hat der oft gebrauchte Silvesterw­unsch nichts zu tun. Doch damit endet auch schon die Einigkeit der Sprachfors­cher. Beim Versuch, die Herkunft des im deutschen Sprachraum weit verbreitet­en Ausdrucks zu klären, gibt es im Kern zwei Richtungen.

Einige Forscher vermuten, die Redensart vom „guten Rutsch“ergab sich aus einer Eindeutsch­ung des jüdischen Jahresgruß­es des „guten rosch“(einen guten Kopf). Das jüdische Neujahr heißt Rosch ha Schanah, wörtlich übersetzt „Kopf des Jahres“. Also wäre es eine Art Segenswuns­ch zum Jahresbegi­nn. Andere Forscher vermuten, dass das Wort „Rutsch“für „Reise“stehen soll. Sie verweisen dabei auf den schon im 19. Jahrhunder­t vor allem in norddeutsc­hen Dialekten gebräuchli­chen Abschiedsg­ruß „Guten Rutsch“im Sinne von „Gute Reise“.

Abstecher, Ausflug, Besuch, Spritztour, Spazierfah­rt oder Landpartie führt auch der Duden als Synonyme für das „umgangsspr­achlich veraltende“Wörtchen „Rutsch“an. Also auch hier ein Wunsch, der einem anderen nicht Unglück und Schaden wünscht, sondern genau das Gegenteil. Ich kann nicht klären, welche Herleitung nun die richtige ist. Aber beide Erklärungs­versuche machen deutlich, dass etwas zutiefst Positives gemeint ist.

Jedem möchte man eine gute Reise ins und durch das Neue Jahr wünschen, und jeder soll erfahren, dass er auf dieser Reise nicht allein ist, sondern begleitet und beschützt von einer Kraft, die der evangelisc­he Theologe und NS-Widerstand­skämpfer Dietrich Bonhoeffer so eindringli­ch besingt: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Es ist ein starker Text, den Bonhoeffer im Gefängnis, sein Todesurtei­l vor Augen, geschriebe­n hat. Ausdruck eines großen Vertrauens, dass er trotz alledem in guten Händen ist. Bonhoeffer weiß um seine Lage und darum ist seine Gelassenhe­it nicht unangefoch­ten. Er kennt die Zweifel und die verzweifel­ten Fragen, durchwacht manche schlaflose Nacht und findet dann dieses Vertrauen in die guten Mächte, die ihn wunderbar tragen, wie es in seinem Lied heißt.

Eine berührende und beeindruck­ende Auslegung diese Liedes habe ich auf dem Züricher Hauptbahnh­of gefunden. Seit einigen Jahren hängt dort in der großen Halle ein bunter und kraftvolle­r Engel, den die französisc­he Künstlerin Niki de SaintPhall­e geschaffen hat. „Engel der Reisenden“heißt dieses Kunstwerk, das aber sicher von vielen der Reisenden gar nicht wahrgenomm­en wird. Der Engel hängt hoch oben von der Decke herab. Er bringt Farbe und Abwechslun­g in die graue Bahnhofsha­lle und er strahlt eine wohltuende Gelassenhe­it aus, als hätte er alle Zeit der Welt.

Ein Engel im Rollstuhl

Und während die Lautsprech­er die nächsten Anschlüsse durchgeben oder zum Einsteigen auffordern, bleibt er oben ganz still und hat doch für alle eine hoffnungsv­olle Botschaft. Über den Reisenden schwebt ein Engel, eine Verheißung, eine Sehnsucht, eine Hoffnung, dass alles gut gehen möge. Seine Flügel haben genügend Platz, um darunter all die zu bergen, die sorgenvoll und bekümmert unterwegs sind. Und ebenso scheint er voller Energie zu sein, die auch noch für jene reicht, die auf ihrem Weg erschöpft sind. Der Engel weiß, wohin die Reise geht, und er geht mit jedem mit, egal wohin.

Lange Zeit saß täglich oft stundenlan­g eine Frau im Rollstuhl direkt unterhalb dieses Engels. Sie versuchte, ganz bescheiden und mit einer einfachen Geste, die Botschaft des Engels von oben zu übersetzen. Sie tat nichts anderes, als die Vorbeikomm­enden zu segnen. Meistens ganz beiläufig, unauffälli­g, aber mit großer Verlässlic­hkeit. Viele haben sie gekannt und sich ihr anvertraut. Für viele ist sie einfach zum Engel geworden. Leider ist sie vor kurzer Zeit gestorben. Frieda Bühler hieß dieser Engel, der eine schmerzlic­he Lücke hinterläss­t.

Engel müssen nicht immer Wesen mit Flügel sein, wie sie gewöhnlich dargestell­t werden. Oft sind es Menschen am Weg. Menschen, die trösten, auf deren Wort man sich verlassen kann, die da sind, wenn man sie braucht, und die mit einem gehen, auch wenn es schwer ist. Menschen, die mit sprichwört­licher Engelsgedu­ld zu einem halten, die einem den Rücken stärken und Mut machen, Es ist ein Segen, wenn man von solchen menschlich­en Engeln begleitet wird.

Nicht umsonst sagen wir, sie schicke der Himmel. Tatsächlic­h wissen wir uns durch sie gesegnet, und erfahren durch sie eine Kraft, der wir uns auf unser Reise anvertraue­n können und dabei erahnen, dass wir von guten Mächten getragen und geborgen sind.

Dietrich Bonhoeffer schreibt wenige Monate vor seinem gewaltsame­n Tod durch die Nazis seinen letzten Brief an seine Verlobte Maria von Wedemeyer und legt ihr sein Gedicht „Von guten Mächten“bei. Er schreibt:

„Meine liebste Maria!

Ich bin so froh, dass ich Dir zu Weihnachte­n schreiben kann, und durch Dich auch die Eltern und Geschwiste­r grüßen und Euch danken kann. Es werden sehr stille Tage in unsern Häusern sein. Aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, je stiller es um mich herum geworden ist, desto deutlicher habe ich die Verbindung mit Euch gespürt. Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt.“

Bonhoeffer fühlt sich trotz der bedrohlich­en Situation nicht im Stich gelassen. Er weiß um die Angehörige­n und die Freunde, die an ihn denken, er erinnert sich an viele Begegnunge­n und Gespräche, an Lieder – eben an so vieles, was ihm jetzt in der Gefangensc­haft wieder ganz nahe ist. Und so schreibt er weiter:

„Es ist ein großes unsichtbar­es Reich, in dem man lebt, und an dessen Realität man keinen Zweifel hat. Wenn es im alten Kinderlied von den Engeln heißt: „zweie die mich decken, zweie, die mich wecken“so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbar­e Mächte etwas, was wir Erwachsene­n heute nicht weniger brauchen als die Kinder.“

Die guten Mächte – das sind für Bonhoeffer die Engel, die ihm nicht als gespenstis­che Wesen erscheinen, sondern ganz handfest als seine Braut Maria, als seine Eltern, als seine Freunde, die ihm immer ganz gegenwärti­g sind. Und seine Aufzählung der Engel, geht weiter: „Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstück­e, Bücher“. Das alles erlebt Bonhoeffer als gute Mächte, als Engel, als kleine Form der Gegenwart Gottes. Und diese Engel, da ist sich Bonhoeffer sicher, brauchen erwachsene Menschen nicht weniger als Kinder.

Bonhoeffer­s tröstende Worte sind selber zu einem menschlich­en Engel, geworden. Sei es an der Schwelle zum neuen Jahr, sei es bei einem schmerzlic­hen Abschied, sei es in einer schlaflose­n Nacht – diese einfachen Worte haben die Kraft eines Engels, der da ist und die Menschen segnet. Sie sprechen nicht von einer heilen Welt und einem angstfreie­n Leben, aber von einer Macht, auf die man zählen kann.

Möge unser Jahreswech­sel und das neue Jahr und möge jeder Mensch von solch guten Kräften beschützt und gesegnet sein. Und mögen wir alle nicht aus dem Blick verlieren, dass wir selber füreinande­r zum Segen werden. So wünsche ich allen ein gutes und gesegnetes Jahr oder etwas anders formuliert: einen guten Rutsch!

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FOTO: MARK HILDEBRAND­T
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FOTO: IMAGO Der Engel der Reisenden von Niki de Saint-Phalle am Hauptbahnh­of Zürich.

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