Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Tafel freut sich über guten Dezember
Erin Erfolg ist die Aktion „Kauf eins mehr“, bei der sich Schüler einbringen.
Ein guter Rutsch!“Das ist der häufigste Wunsch, den man in diesen Tagen zu hören bekommt. Kurz und salopp kommt er daher und scheint alles zu beinhalten, was man einander zum Neuen Jahr wünschen kann. Aber einmal ehrlich? Ist das nicht reichlich widersprüchlich? Wäre es nicht gescheiter, einander einen festen Stand oder einen sicheren Weg zu wünschen? Ist nicht schon viel zu viel in unserer Welt ins Rutschen gekommen? Beschleichen uns nicht gerade zum Jahreswechsel Gefühle der Unsicherheit und Angst? Auch die lauten Feuerwerke der Silvesternacht werden diese innere Unruhe vieler Menschen nicht verstummen lassen.
Es scheint paradox, in Augenblicken, in denen man das Ungewisse und Unsichere und dabei auch die eigen Hilflosigkeit spürt, gerade dann einander einen guten Rutsch zu wünschen. Wie wenn man einem Skirennläufer zu Beginn des Rennens Hals und Beinbruch wünscht, anstatt ihm zu wünschen, dass er unten heil ankommt. So eigenartig solche Wünsche einem bei näherem Betrachten vorkommen, sie sind zutiefst im allgemeinen Sprachgebrauch verwurzelt und haben einen tieferen Sinn als es oberflächlich erscheint.
Rutsch gibt es nur in Deutschland
Die Redewendung vom „Guten Rutsch“gibt es in keinem anderen Land als in Deutschland. Auch wenn es viele glauben: Mit Glatteis und Schneematsch in der Neujahrsnacht hat der oft gebrauchte Silvesterwunsch nichts zu tun. Doch damit endet auch schon die Einigkeit der Sprachforscher. Beim Versuch, die Herkunft des im deutschen Sprachraum weit verbreiteten Ausdrucks zu klären, gibt es im Kern zwei Richtungen.
Einige Forscher vermuten, die Redensart vom „guten Rutsch“ergab sich aus einer Eindeutschung des jüdischen Jahresgrußes des „guten rosch“(einen guten Kopf). Das jüdische Neujahr heißt Rosch ha Schanah, wörtlich übersetzt „Kopf des Jahres“. Also wäre es eine Art Segenswunsch zum Jahresbeginn. Andere Forscher vermuten, dass das Wort „Rutsch“für „Reise“stehen soll. Sie verweisen dabei auf den schon im 19. Jahrhundert vor allem in norddeutschen Dialekten gebräuchlichen Abschiedsgruß „Guten Rutsch“im Sinne von „Gute Reise“.
Abstecher, Ausflug, Besuch, Spritztour, Spazierfahrt oder Landpartie führt auch der Duden als Synonyme für das „umgangssprachlich veraltende“Wörtchen „Rutsch“an. Also auch hier ein Wunsch, der einem anderen nicht Unglück und Schaden wünscht, sondern genau das Gegenteil. Ich kann nicht klären, welche Herleitung nun die richtige ist. Aber beide Erklärungsversuche machen deutlich, dass etwas zutiefst Positives gemeint ist.
Jedem möchte man eine gute Reise ins und durch das Neue Jahr wünschen, und jeder soll erfahren, dass er auf dieser Reise nicht allein ist, sondern begleitet und beschützt von einer Kraft, die der evangelische Theologe und NS-Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer so eindringlich besingt: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“
Es ist ein starker Text, den Bonhoeffer im Gefängnis, sein Todesurteil vor Augen, geschrieben hat. Ausdruck eines großen Vertrauens, dass er trotz alledem in guten Händen ist. Bonhoeffer weiß um seine Lage und darum ist seine Gelassenheit nicht unangefochten. Er kennt die Zweifel und die verzweifelten Fragen, durchwacht manche schlaflose Nacht und findet dann dieses Vertrauen in die guten Mächte, die ihn wunderbar tragen, wie es in seinem Lied heißt.
Eine berührende und beeindruckende Auslegung diese Liedes habe ich auf dem Züricher Hauptbahnhof gefunden. Seit einigen Jahren hängt dort in der großen Halle ein bunter und kraftvoller Engel, den die französische Künstlerin Niki de SaintPhalle geschaffen hat. „Engel der Reisenden“heißt dieses Kunstwerk, das aber sicher von vielen der Reisenden gar nicht wahrgenommen wird. Der Engel hängt hoch oben von der Decke herab. Er bringt Farbe und Abwechslung in die graue Bahnhofshalle und er strahlt eine wohltuende Gelassenheit aus, als hätte er alle Zeit der Welt.
Ein Engel im Rollstuhl
Und während die Lautsprecher die nächsten Anschlüsse durchgeben oder zum Einsteigen auffordern, bleibt er oben ganz still und hat doch für alle eine hoffnungsvolle Botschaft. Über den Reisenden schwebt ein Engel, eine Verheißung, eine Sehnsucht, eine Hoffnung, dass alles gut gehen möge. Seine Flügel haben genügend Platz, um darunter all die zu bergen, die sorgenvoll und bekümmert unterwegs sind. Und ebenso scheint er voller Energie zu sein, die auch noch für jene reicht, die auf ihrem Weg erschöpft sind. Der Engel weiß, wohin die Reise geht, und er geht mit jedem mit, egal wohin.
Lange Zeit saß täglich oft stundenlang eine Frau im Rollstuhl direkt unterhalb dieses Engels. Sie versuchte, ganz bescheiden und mit einer einfachen Geste, die Botschaft des Engels von oben zu übersetzen. Sie tat nichts anderes, als die Vorbeikommenden zu segnen. Meistens ganz beiläufig, unauffällig, aber mit großer Verlässlichkeit. Viele haben sie gekannt und sich ihr anvertraut. Für viele ist sie einfach zum Engel geworden. Leider ist sie vor kurzer Zeit gestorben. Frieda Bühler hieß dieser Engel, der eine schmerzliche Lücke hinterlässt.
Engel müssen nicht immer Wesen mit Flügel sein, wie sie gewöhnlich dargestellt werden. Oft sind es Menschen am Weg. Menschen, die trösten, auf deren Wort man sich verlassen kann, die da sind, wenn man sie braucht, und die mit einem gehen, auch wenn es schwer ist. Menschen, die mit sprichwörtlicher Engelsgeduld zu einem halten, die einem den Rücken stärken und Mut machen, Es ist ein Segen, wenn man von solchen menschlichen Engeln begleitet wird.
Nicht umsonst sagen wir, sie schicke der Himmel. Tatsächlich wissen wir uns durch sie gesegnet, und erfahren durch sie eine Kraft, der wir uns auf unser Reise anvertrauen können und dabei erahnen, dass wir von guten Mächten getragen und geborgen sind.
Dietrich Bonhoeffer schreibt wenige Monate vor seinem gewaltsamen Tod durch die Nazis seinen letzten Brief an seine Verlobte Maria von Wedemeyer und legt ihr sein Gedicht „Von guten Mächten“bei. Er schreibt:
„Meine liebste Maria!
Ich bin so froh, dass ich Dir zu Weihnachten schreiben kann, und durch Dich auch die Eltern und Geschwister grüßen und Euch danken kann. Es werden sehr stille Tage in unsern Häusern sein. Aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, je stiller es um mich herum geworden ist, desto deutlicher habe ich die Verbindung mit Euch gespürt. Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt.“
Bonhoeffer fühlt sich trotz der bedrohlichen Situation nicht im Stich gelassen. Er weiß um die Angehörigen und die Freunde, die an ihn denken, er erinnert sich an viele Begegnungen und Gespräche, an Lieder – eben an so vieles, was ihm jetzt in der Gefangenschaft wieder ganz nahe ist. Und so schreibt er weiter:
„Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt, und an dessen Realität man keinen Zweifel hat. Wenn es im alten Kinderlied von den Engeln heißt: „zweie die mich decken, zweie, die mich wecken“so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsenen heute nicht weniger brauchen als die Kinder.“
Die guten Mächte – das sind für Bonhoeffer die Engel, die ihm nicht als gespenstische Wesen erscheinen, sondern ganz handfest als seine Braut Maria, als seine Eltern, als seine Freunde, die ihm immer ganz gegenwärtig sind. Und seine Aufzählung der Engel, geht weiter: „Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher“. Das alles erlebt Bonhoeffer als gute Mächte, als Engel, als kleine Form der Gegenwart Gottes. Und diese Engel, da ist sich Bonhoeffer sicher, brauchen erwachsene Menschen nicht weniger als Kinder.
Bonhoeffers tröstende Worte sind selber zu einem menschlichen Engel, geworden. Sei es an der Schwelle zum neuen Jahr, sei es bei einem schmerzlichen Abschied, sei es in einer schlaflosen Nacht – diese einfachen Worte haben die Kraft eines Engels, der da ist und die Menschen segnet. Sie sprechen nicht von einer heilen Welt und einem angstfreien Leben, aber von einer Macht, auf die man zählen kann.
Möge unser Jahreswechsel und das neue Jahr und möge jeder Mensch von solch guten Kräften beschützt und gesegnet sein. Und mögen wir alle nicht aus dem Blick verlieren, dass wir selber füreinander zum Segen werden. So wünsche ich allen ein gutes und gesegnetes Jahr oder etwas anders formuliert: einen guten Rutsch!