Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Diesel müssen draußen bleiben
Anwohner, Kläger, Richter, Arzt und Klimatologe: Akteure der Stuttgarter Misere
Nun ist es so weit: An Neujahr tritt in Stuttgart das bundesweit erste großflächige Dieselfahrverbot in Kraft (Foto: imago). Ab Dienstag dürfen Diesel der Abgasnorm 4 und schlechter in Baden-Württembergs Landeshauptstadt nicht mehr in die Umweltzone fahren. Für Anwohner gilt eine Übergangsfrist bis zum 1. April. Auch gibt es viele Ausnahmen, etwa für Handwerker. Die Stadt und die Polizei planen zunächst keine gezielten Kontrollen. Zumindest bis Ende Januar soll es bei Verstößen zunächst nur Ermahnungen geben. Später wird dann ein Bußgeld von 80 Euro plus Gebühren und Auslagen fällig.
STUTTGART (lsw) - Ausgerechnet Stuttgart mit den Werken von Daimler und Porsche muss ab Neujahr als erste deutsche Stadt Dieselfahrverbote für das gesamte Stadtgebiet einführen. Seit Jahren muss BadenWürttembergs Landeshauptstadt extrem hohe Schadstoffwerte nach Brüssel melden. Bürger und Umweltschützer stehen im Fokus – aber auch ein besonderer Richter, ein Arzt und ein Stadtklimatologe.
Der Anwohner
Seit 2005 kämpft Manfred Niess (68) gegen die Schadstoffbelastung der Luft vor seiner Haustür. Der ehemalige Lehrer lebt an Deutschlands schmutzigster Straßenkreuzung, dem Stuttgarter Neckartor. Schon damals am nahen Zeppelin-Gymnasium habe er sich immer gefragt, ob das Lüften der Klassenräume zur Pause sinnvoll sei. „Man weiß ja nicht, was da rein kommt“, sagt der Mitgründer vom Klima- und Umweltbündnis Stuttgart. Viel Lebenszeit habe er schon in Gerichtssälen verbracht. Er mache weiter – „und wenn es mich den letzten Nerv kostet“. Er habe schon viele Vorschläge von Land und Stadt zur Luftreinhaltung kommen und gehen sehen. „Die spielen von Anfang an auf Zeit. Und das ist sehr ärgerlich.“Schlimm findet Niess auch, dass immer wieder auch die Deutsche Umwelthilfe (DUH) angegriffen werde. „Das Versagen liegt in Berlin.“Kriminell sei doch wohl die Autoindustrie – und nicht die DUH. Ein Auto hat Manfred Niess übrigens nicht mehr.
Der Kläger
Für die Autoindustrie ist Jürgen Resch, Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, in Sachen Diesel so etwas wie ein rotes Tuch. Leidenschaftlich kämpft der 58-Jährige, geboren in Plochingen nahe Stuttgart, für saubere Luft. Dann ist der Umweltschützer in seinem Element. Resch eilt von Gericht zu Gericht, von Erfolg zu Erfolg. Ohne Punkt und Komma kann er über Motortypen und EU-Richtlinien referieren, sieht sich „juristisch und inhaltlich auf Augenhöhe mit Industrie und Politik, so wie dies unser Grundgesetz auch vorschreibt“. Der dreifache Vater lebt seit 30 Jahren in einem renovierten Bauernhaus in Süddeutschland, in „einem hübschen kleinen Dorf im Hinterland des Bodensees“, wie er sagt, „mit Bauern und Handwerkern als Nachbarn, einem Kuhdorf im positiven Sinne“. Bei den Grünen ist er übrigens nicht, sieht sich als „parteipolitisch neutral“. Den grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann duzt er seit Jahren, nennt ihn aber „Geisel“der übermächtigen Autoindustrie.
Der Arzt
Stadtluft macht eher krank als frei – davon ist Professor Christian Witt (64) überzeugt. Die Lungenkoryphäe der Charité Berlin sagt eine steigende Zahl schwerer Lungen- und Herzerkrankungen durch die miese Luft in den Städten voraus. Bedroht von den Folgen einer anhaltend hohen Konzentration an Feinstaub und Stickoxiden aus Autoabgasen seien vor allem Anwohner stark belasteter Straßen, die ohnehin schon Gesundheitsprobleme hätten. „Die Schadstoffe lösen in erster Linie eine Entzündung aus – und verstärken bereits bestehende Erkrankungen der Lunge oder des Herz-Kreislauf-Systems“, erklärt der Greifswalder. Ob Feinstaub und Stickoxide auch Gesunde krank machen können, sei hingegen noch nicht geklärt. Mit der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie fordert Witt ein Umdenken in Sachen Luftverschmutzung. Laut WHO ist sie der wichtigste umweltbedingte Risikofaktor für Erkrankungen. Studien zeigten, dass Feinstaub, Stickoxide und andere Schmutzpartikel nicht nur der Lunge schadeten – es gebe auch Zusammenhänge mit Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes und Demenz.
Der Stadtklimatologe
Das Luftproblem in Stuttgart ist alt. Die Innenstadt liegt in einem dicht bebauten Talkessel, der fast vollständig von einem Höhenkranz umgeben ist. Luftaustausch ist da schwierig, vor allem wenn sich kalte Luftschichten wie ein Deckel auf den Kessel legen und die miese Luft am Boden halten. Bereits 1938 hat der Gemeinderat das erkannt und die Anstellung eines Meteorologen beschlossen, um die klimatischen Verhältnisse in den Blick zu nehmen. Heute ist Rainer Kapp (52), Ingenieur, seit fast einem Jahr oberster Stadtklimatologe und damit Herr über den Feinstaubalarm. Melden ihm Meteorologen eine absehbar stark austauscharme Wetterlage, ruft Kapp den Alarm aus. Autofahrer werden dann zum Umstieg auf Bus und Bahn aufgerufen, das Befeuern von Komfortkaminen ist untersagt. Keine andere Stadt in Deutschland kennt einen solchen Alarm – aber vielleicht hat er auch seinen Teil beigetragen, dass der EU-Grenzwert für Feinstaub 2018 wohl erstmals nicht gerissen wird. Doch Kapp, der stets Stadtbahn fährt, ist skeptisch: 2018 sei das Wetter untypisch gewesen. Und das größere Problem sei ohnehin Stickstoffdioxid.
Der Richter
Je häufiger er sich zur miesen Stuttgarter Luft äußern muss, desto klarer wird Wolfgang Kern. Ein ums andere Mal macht der Richter des Verwaltungsgerichts Stuttgart diversen Experten des Landes deutlich, welche Maßnahmen tatsächlich zur Luftverbesserung taugen – und welche nicht. Als „Schreck der Dieselindustrie“wird der 61-Jährige bezeichnet, dabei pocht er nur auf den Gesundheitsschutz der Menschen. „Dies ist keine Maßnahme zur nachhaltigen Verbesserung der Luftqualität“, hört man ihn wiederholt sagen. Der zweifache Vater aus Gomadingen auf der Schwäbischen Alb ist seit 1992 Richter in Stuttgart. Natürlich seien die Fahrverbote „in hohem Maße bedauerlich und die Verärgerung der davon betroffenen Autofahrer verständlich“, sagt er. Es sei aber nicht Aufgabe der Justiz, „diese durch jahrelange Versäumnisse der Automobilindustrie und der Politik verursachten Nachteile für die Betroffenen durch eine falsche Rechtsanwendung zulasten der Wohnbevölkerung in den betroffenen Städten zu kompensieren“.