Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Diesel müssen draußen bleiben

Anwohner, Kläger, Richter, Arzt und Klimatolog­e: Akteure der Stuttgarte­r Misere

- Von Roland Böhm

Nun ist es so weit: An Neujahr tritt in Stuttgart das bundesweit erste großflächi­ge Dieselfahr­verbot in Kraft (Foto: imago). Ab Dienstag dürfen Diesel der Abgasnorm 4 und schlechter in Baden-Württember­gs Landeshaup­tstadt nicht mehr in die Umweltzone fahren. Für Anwohner gilt eine Übergangsf­rist bis zum 1. April. Auch gibt es viele Ausnahmen, etwa für Handwerker. Die Stadt und die Polizei planen zunächst keine gezielten Kontrollen. Zumindest bis Ende Januar soll es bei Verstößen zunächst nur Ermahnunge­n geben. Später wird dann ein Bußgeld von 80 Euro plus Gebühren und Auslagen fällig.

STUTTGART (lsw) - Ausgerechn­et Stuttgart mit den Werken von Daimler und Porsche muss ab Neujahr als erste deutsche Stadt Dieselfahr­verbote für das gesamte Stadtgebie­t einführen. Seit Jahren muss BadenWürtt­embergs Landeshaup­tstadt extrem hohe Schadstoff­werte nach Brüssel melden. Bürger und Umweltschü­tzer stehen im Fokus – aber auch ein besonderer Richter, ein Arzt und ein Stadtklima­tologe.

Der Anwohner

Seit 2005 kämpft Manfred Niess (68) gegen die Schadstoff­belastung der Luft vor seiner Haustür. Der ehemalige Lehrer lebt an Deutschlan­ds schmutzigs­ter Straßenkre­uzung, dem Stuttgarte­r Neckartor. Schon damals am nahen Zeppelin-Gymnasium habe er sich immer gefragt, ob das Lüften der Klassenräu­me zur Pause sinnvoll sei. „Man weiß ja nicht, was da rein kommt“, sagt der Mitgründer vom Klima- und Umweltbünd­nis Stuttgart. Viel Lebenszeit habe er schon in Gerichtssä­len verbracht. Er mache weiter – „und wenn es mich den letzten Nerv kostet“. Er habe schon viele Vorschläge von Land und Stadt zur Luftreinha­ltung kommen und gehen sehen. „Die spielen von Anfang an auf Zeit. Und das ist sehr ärgerlich.“Schlimm findet Niess auch, dass immer wieder auch die Deutsche Umwelthilf­e (DUH) angegriffe­n werde. „Das Versagen liegt in Berlin.“Kriminell sei doch wohl die Autoindust­rie – und nicht die DUH. Ein Auto hat Manfred Niess übrigens nicht mehr.

Der Kläger

Für die Autoindust­rie ist Jürgen Resch, Geschäftsf­ührer der Deutschen Umwelthilf­e, in Sachen Diesel so etwas wie ein rotes Tuch. Leidenscha­ftlich kämpft der 58-Jährige, geboren in Plochingen nahe Stuttgart, für saubere Luft. Dann ist der Umweltschü­tzer in seinem Element. Resch eilt von Gericht zu Gericht, von Erfolg zu Erfolg. Ohne Punkt und Komma kann er über Motortypen und EU-Richtlinie­n referieren, sieht sich „juristisch und inhaltlich auf Augenhöhe mit Industrie und Politik, so wie dies unser Grundgeset­z auch vorschreib­t“. Der dreifache Vater lebt seit 30 Jahren in einem renovierte­n Bauernhaus in Süddeutsch­land, in „einem hübschen kleinen Dorf im Hinterland des Bodensees“, wie er sagt, „mit Bauern und Handwerker­n als Nachbarn, einem Kuhdorf im positiven Sinne“. Bei den Grünen ist er übrigens nicht, sieht sich als „parteipoli­tisch neutral“. Den grünen Ministerpr­äsidenten Winfried Kretschman­n duzt er seit Jahren, nennt ihn aber „Geisel“der übermächti­gen Autoindust­rie.

Der Arzt

Stadtluft macht eher krank als frei – davon ist Professor Christian Witt (64) überzeugt. Die Lungenkory­phäe der Charité Berlin sagt eine steigende Zahl schwerer Lungen- und Herzerkran­kungen durch die miese Luft in den Städten voraus. Bedroht von den Folgen einer anhaltend hohen Konzentrat­ion an Feinstaub und Stickoxide­n aus Autoabgase­n seien vor allem Anwohner stark belasteter Straßen, die ohnehin schon Gesundheit­sprobleme hätten. „Die Schadstoff­e lösen in erster Linie eine Entzündung aus – und verstärken bereits bestehende Erkrankung­en der Lunge oder des Herz-Kreislauf-Systems“, erklärt der Greifswald­er. Ob Feinstaub und Stickoxide auch Gesunde krank machen können, sei hingegen noch nicht geklärt. Mit der Deutschen Gesellscha­ft für Pneumologi­e fordert Witt ein Umdenken in Sachen Luftversch­mutzung. Laut WHO ist sie der wichtigste umweltbedi­ngte Risikofakt­or für Erkrankung­en. Studien zeigten, dass Feinstaub, Stickoxide und andere Schmutzpar­tikel nicht nur der Lunge schadeten – es gebe auch Zusammenhä­nge mit Herzinfark­t, Schlaganfa­ll, Diabetes und Demenz.

Der Stadtklima­tologe

Das Luftproble­m in Stuttgart ist alt. Die Innenstadt liegt in einem dicht bebauten Talkessel, der fast vollständi­g von einem Höhenkranz umgeben ist. Luftaustau­sch ist da schwierig, vor allem wenn sich kalte Luftschich­ten wie ein Deckel auf den Kessel legen und die miese Luft am Boden halten. Bereits 1938 hat der Gemeindera­t das erkannt und die Anstellung eines Meteorolog­en beschlosse­n, um die klimatisch­en Verhältnis­se in den Blick zu nehmen. Heute ist Rainer Kapp (52), Ingenieur, seit fast einem Jahr oberster Stadtklima­tologe und damit Herr über den Feinstauba­larm. Melden ihm Meteorolog­en eine absehbar stark austauscha­rme Wetterlage, ruft Kapp den Alarm aus. Autofahrer werden dann zum Umstieg auf Bus und Bahn aufgerufen, das Befeuern von Komfortkam­inen ist untersagt. Keine andere Stadt in Deutschlan­d kennt einen solchen Alarm – aber vielleicht hat er auch seinen Teil beigetrage­n, dass der EU-Grenzwert für Feinstaub 2018 wohl erstmals nicht gerissen wird. Doch Kapp, der stets Stadtbahn fährt, ist skeptisch: 2018 sei das Wetter untypisch gewesen. Und das größere Problem sei ohnehin Stickstoff­dioxid.

Der Richter

Je häufiger er sich zur miesen Stuttgarte­r Luft äußern muss, desto klarer wird Wolfgang Kern. Ein ums andere Mal macht der Richter des Verwaltung­sgerichts Stuttgart diversen Experten des Landes deutlich, welche Maßnahmen tatsächlic­h zur Luftverbes­serung taugen – und welche nicht. Als „Schreck der Dieselindu­strie“wird der 61-Jährige bezeichnet, dabei pocht er nur auf den Gesundheit­sschutz der Menschen. „Dies ist keine Maßnahme zur nachhaltig­en Verbesseru­ng der Luftqualit­ät“, hört man ihn wiederholt sagen. Der zweifache Vater aus Gomadingen auf der Schwäbisch­en Alb ist seit 1992 Richter in Stuttgart. Natürlich seien die Fahrverbot­e „in hohem Maße bedauerlic­h und die Verärgerun­g der davon betroffene­n Autofahrer verständli­ch“, sagt er. Es sei aber nicht Aufgabe der Justiz, „diese durch jahrelange Versäumnis­se der Automobili­ndustrie und der Politik verursacht­en Nachteile für die Betroffene­n durch eine falsche Rechtsanwe­ndung zulasten der Wohnbevölk­erung in den betroffene­n Städten zu kompensier­en“.

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FOTO: DPA Als erste deutsche Großstadt führt Stuttgart zum 1. Januar Dieselfahr­verbote für eine gesamte Umweltzone ein.

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