Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Japaner, 22, etwas verrückt, hat Spaß
Oberstdorf-Sieger Ryoyu Kobayashi dominiert den Skisprung-Winter dank seiner Absprungtechnik
OBERSTDORF - Den Prolog meisterte Ryoyu Kobayashi lässig. Von sieben Weltcup-Springen vier gewonnen, zweimal Dritter, einmal Siebter, im Saisonklassement satte 111 Punkte voraus – da warteten ein halbes Dutzend TV-Kameras, drängten sich Mikrofone und Objektive im Oberstdorf-Haus. Eröffnungspressekonferenz war vor der 67. Vierschanzentournee, und der Mann aus Hachimantai sah nicht so aus, als bringe ihn die geballte Medienpräsenz aus der Balance. Ryoyu Kobayashi sagte wenig – aber das stets verbindlich, oft lächelnd, mitunter gar witzig-pointiert. Bleibender Eindruck: Der Rummel seiner erst dritten Tournee wird den 22-Jährigen nicht bremsen.
Ryoyu Kobayashi ungebremst, das war zum Auftakt von der Schattenbergschanze am Sonntagabend zu erleben. 138,5 Meter erst, 126,5 Meter dann bei ungünstigem Wind, 0,4 Zähler Vorsprung auf den famosen Markus Eisenbichler, 1,8 auf Österreichs wiedererstarkten Stefan Kraft. Die 25 500 Zuschauer wurden Zeugen einer Demonstration der (Nerven-)Stärke: Saisonsieg Nummer fünf. Samt nach oben gerecktem rechten Daumen, samt gehöriger Erleichterung, als final zusammengerechnet war.
Ryoyu Kobayashi ungebremst, das ist zuallererst seine verblüffende Absprungtechnik. „Er hat den Ski unfassbar schnell am Körper.“Staunen schwingt in Bundestrainer Werner Schusters Analyse mit, Amtskollege Alex Stöckl (Norwegen) führt sie fort: „Er überbrückt unglaublich schnell die erste Flugphase – schneller als alle anderen.“
Runder überdies, hat auch Richard Freitag beobachtet: „Ryoyu hat oben keine Ecke drin, er macht keinen Zappler – nichts. Er ist extrem auf Speed oben, dann funktioniert es einfach.“Details? Geheimnisse womöglich? Im Oberstdorf-Haus wurden sie natürlich nicht diskutiert, Janne Väätäinen hat jüngst der „Tiroler Tageszeitung“nur so viel verraten: „Seine Hocke und seine Art, den Schanzenradius zu nützen, sind sehr speziell.“
Janne Väätäinen ist Finne, Skisprungtrainer mit feinem Renommee und seit 2011 für das Tsuchiya Home Ski Team tätig. Der etwas sperrige Name verrät die Wohnbauund Immobiliengesellschaft, die sich in Sapporo den Luxus eines Springer-Ensembles gönnt; bekanntester Meter machender Angestellter ist Noriaki Kasai, der 46-Jährige, der am Samstag als 53. um eineinhalb Meter den Einzug ins Hauptfeld verpasste.
Auch Ryoyu Kobayashis Geschwister springen Ski
Ryoyu Kobayashi war Janne Väätäinen bereits als Schüler aufgefallen, mit 17 stieß er zur Tsuchiya-Trainingsgruppe. Dort dauerte es, bis Janne Väätäinens Faible für Feinarbeit auch Ryoyu Kobayashi zum Faible wurde: Spritztouren mit seinem gebrauchten Porsche-SUV, so erzählt man, seien ihm lange Zeit ungleich wichtiger gewesen als das stetige Feilen an Anlauf, Absprung, Übergang, Flug und Landung.
Talent, dachte der Ryoyu Kobayashi dieser Tage wohl, genüge. Und Talent gibt es reichlich unter den vier Kindern eines Sport- und Skilehrers. Junshiro, der Älteste des Quartetts, ist im Weltcup etabliert, Schwester Yuka bestritt bislang acht Wettkämpfe auf höchstem Level, auch der jüngere Bruder springt veritabel Ski. Da musste die Einsicht erst wachsen bei Ryoyu Kobayashi, dass Weite nie Selbstläufer ist. Zumal sein Weltcup-Debüt genau diese Idee befeuerte: 24. Januar 2016, Zakopane, Platz sieben!
Täler folgten, tiefe Täler: 2016/17 erreichte Ryoyu Kobayashi keinen einzigen zweiten Durchgang, blieb er ohne jeden Punkt. Es gab viel zu bereden für Janne Väätäinen – und dann gab es Olympia, Pyeongchang. Siebter von der Normal-, Zehnter von der Großschanze, die Trendwende. Zwei Sommer-Grand-Prix-Siege in Hakuba danach deuteten an, was auf Schnee kommen könnte. Es kam. Heimtrainer Väätäinen erklärt den Kobayashi des Winters 2018/19 so: „Er weiß jetzt, wann ein Sprung gut werden kann und wann nicht.“
Ryoyu Kobayashi weiß auch, wie er die Vierschanzentournee angehen will nach zwei Wochen Weihnachtsauszeit daheim: Druck? Verspüre er nicht. Erwartungshaltungen? Blende er aus. „Das Wichtigste für mich ist, dass ich bei meinen Sprüngen Spaß habe.“Und, ach ja: Er sei, sagt Ryoyu Kobayashi auf die Bitte, sich zu beschreiben, ein „Neo-Japaner ... ein etwas verrückter Japaner“.
Offenbar nicht die schlechteste Voraussetzung für Spaß bis Bischofshofen. Für den zweiten japanischen Tournee-Gesamtsieg nach Kazuyoshi Funaki 1998. Am Skispringen hapern wird’s eh nicht.