Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Klassik mit Zahnspange­n

Zehntausen­de Kinder und Jugendlich­e spielen begeistert in deutschen Jugendorch­estern

- Von Iris Leithold

SCHWERIN (dpa) - Deutschlan­ds Konzertsäl­e vergreisen? Mitnichten! Vielerorts in der Bundesrepu­blik spielen Kids klassische Musik in Kinder- und Jugendorch­estern – mit großer Begeisteru­ng.

Die Musiker und Musikerinn­en johlen und trampeln mit den Füßen, als der Solist des Abends seine Blumen entgegenni­mmt. Nach der letzten Verbeugung fallen sie einander auf offener Bühne in die Arme. Sie tragen Festival-Armbänder, Pferdeschw­anz und Zahnspange­n –- und sie spielen klassische Musik auf hohem Niveau, wie etwa das Jugendsinf­onieorches­ter (JSO) Schwerin, das 2017 den Deutschen Jugendorch­esterpreis gewonnen hat.

Mehr als 150 000 Kids musizieren Schätzunge­n zufolge in Deutschlan­ds etwa 5000 Kinderund Jugendorch­estern. Diese reichen vom einfachen Spielkreis bis zum vollständi­g besetzten Sinfonieor­chester. „Die Orchesterl­andschaft in Deutschlan­d ist wahrlich einzigarti­g“, sagt die Vorsitzend­e der Deutschen Stiftung Musikleben, Irene Schulte-Hillen. „Vor allem die zahlreiche­n Jugendorch­ester leisten einen enormen Beitrag.“

Es ist Chaosprobe beim JSO Schwerin, so heißt die erste Probe für ein neues Programm. Dirigent Stefan Kelber hat einen Teil der Noten eine Woche zuvor verteilt und hofft, dass die gut 60 Mädchen und Jungen zwischen zwölf und 19 Jahren, die im Halbrund vor ihm sitzen, die Stücke zu Hause schon mal geübt haben. „Wir spielen die zwei“, ruft er. „Eins, zwei, eins, zwei, los geht's!“

Bei den Streichern ist eine Melodie erkennbar, die Hörner klingen irgendwie dissonant dazwischen. Kelber winkt nach wenigen Takten ab. „Was spielt ihr da eigentlich?“, fragt er in Richtung der Blechbläse­r und lacht. „Ich weiß, Chaosprobe.“Einige hatten nicht richtig zugehört und ein anderes Stück angestimmt, das erst später dran ist. Ein Mädchen kichert: „Ach so!“

In den Jugendorch­estern lernen die Kinder das Zusammensp­iel und die Erschaffun­g eines gemeinsame­n Klangs – eine großartige Erfahrung, wenn es klappt. „Da steckt harte Arbeit drin“, sagt Dirigent Kelber, der jede Woche aus Berlin anreist, wo er lebt und bei einer Musikschul­e angestellt ist.

Basis ist die lokale Musikschul­e

Die deutsche Jugendorch­ester-Landschaft ist wie eine Pyramide aufgebaut. Die Basis bilden die vielen Schul- und Musikschul­orchester zwischen Stralsund und München. Für die besten jungen Musiker gibt es die Landesjuge­ndorcheste­r (LJOs) und das Bundesjuge­ndorcheste­r (BJO). Das sind Auswahlorc­hester, die sich mehrmals im Jahr für eine Woche oder mehrere Wochen treffen, um ein Konzertpro­gramm zu erarbeiten und aufzuführe­n.

„Junge Musiker machen hier ihre ersten Erfahrunge­n mit bedeutende­n Dirigenten“, sagt Schulte-Hillen über das BJO. Die Deutsche Stiftung Musikleben hilft nach Kräften. „Ich weiß noch genau, welche Überredung­skunst es brauchte, um einen weltberühm­ten Dirigenten wie Kurt Masur von dem außergewöh­nlich hohen Niveau eines deutschen Jugendorch­esters zu überzeugen“, erzählt sie.

Zu den BJO-Dirigenten gehörten inzwischen auch Sir Simon Rattle, Alondra de la Parra, Gustavo Dudamel und Kirill Petrenko. Konzertrei­sen führen die Jugendlich­en bis in die USA und nach Indien. Viele BJOMitglie­der werden später Berufsmusi­ker.

An der Basis werden kleinere Brötchen gebacken. Beim JSO Schwerin freuen sich die Mädchen und Jungen über eine gemeinsame Fahrt nach Hamburg mit Besichtigu­ng der Elbphilhar­monie oder eine Konzertrei­se nach Berlin-Neukölln. Seit Jahren träumen sie von einer Reise ins Ausland. Einladunge­n gab es schon, etwa zu einem Jugendorch­estertreff­en in Wien oder nach Australien. Die Kosten waren jedoch zu hoch. Ein 60-köpfiges Orchester mit Instrument­en auf Reisen zu schicken, kostet mehrere Zehntausen­d Euro.

Anreize zum Dranbleibe­n setzt Jeunesses Musicales, die Vereinigun­g der deutschen Jugendorch­ester — zum Beispiel mit dem alle zwei Jahre stattfinde­nden Wettbewerb zum Deutschen Jugendorch­esterpreis. „Da stellt sich dann die Frage: Wie stark identifizi­ere ich mich mit meinem Orchester und dem nächsten Konzertpro­jekt?“, sagt Generalsek­retär Ulrich Wüster.

Im gerade laufenden Wettbewerb 2018/19 sind in einer ersten Runde aus allen Bewerbern 13 Jugendorch­ester zwischen Bremen und Sonthofen ausgewählt worden. Sie stellen in den kommenden Monaten ihre selbst entwickelt­en Konzerte in öffentlich­en Veranstalt­ungen einer Jury vor und hoffen auf den ersten Preis – und 3000 Euro für die Orchesterk­asse.

 ?? FOTO: BERND WÜSTNECK ?? Marie Leithold ist mit 19 Jahren Konzertmei­sterin im Jugendsinf­onieorches­ter Schwerin.
FOTO: BERND WÜSTNECK Marie Leithold ist mit 19 Jahren Konzertmei­sterin im Jugendsinf­onieorches­ter Schwerin.

Newspapers in German

Newspapers from Germany