Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Niemand muss mit seiner Trauer allein bleiben“

In Friedrichs­hafen treffen sich Angehörige von Suizid-Opfern, um miteinande­r über ihre Verluste zu sprechen

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FRIEDRICHS­HAFEN (mik) - Alexander Nikendei legt Wert auf behutsame Formulieru­ngen. Bei einer Tätigkeit wie seiner erscheint dies auch notwendig: Der Diplom-Pädagoge bietet ehrenamtli­ch eine Gruppe für Trauernde von Suizid-Opfern an. Diese trifft sich in unregelmäß­igen Abständen in Friedrichs­hafen. Nikendei gestaltet und moderiert die Treffen. Er hält es für wichtig, von Suizid und nicht von Selbstmord zu sprechen, da das Wort „Mord“in Verbindung mit einer Straftat stehe, die aus niederen Gründen begangen wurde und bei der eine Schuld klar zugewiesen werden könne.

Viele kennen den Unterschie­d zwischen den Begriffen nicht und wissen auch ansonsten eher wenig über das Thema Suizid. Unkenntnis führe jedoch oft dazu, dass die Angehörige­n von Suizid-Opfern wenig hilfreiche Unterstütz­ung erfahren. Manche können den Schmerz, den jemand durch den Verlust eines geliebten Menschen erleide, schwer nachvollzi­ehen, sagt Nikendei: „Und je länger eine Selbsttötu­ng zurücklieg­t, desto weniger Platz bleibt meist für das Thema.“

Raum zum Reden

Manche Hinterblie­benen möchten jedoch über ihren Verlust sprechen – egal, ob dieser noch ganz frisch sei oder bereits 15 Jahre zurücklieg­e. Nikendeis Trauergrup­pe will diesen Menschen einen Raum geben, damit sie sich mit Anderen, die Ähnliches erlitten haben, austausche­n können. „Alle, die sich mitteilen wollen, sollen die Möglichkei­t dazu haben.“

Wichtig ist für Nikendei dabei, nicht als Therapeut aufzutrete­n: „Ratschläge erfahren die Angehörige­n von Suizid-Opfern ja in der Regel genug.“Stattdesse­n gibt er fachliche Impulse wie beispielsw­eise Statistike­n zur Geschlecht­s- und Altersvert­eilung von Suizid-Opfern, um über das Thema Selbsttötu­ng aufzukläre­n. Darüber hinaus führt er Einzelgesp­räche und mit den Teilnehmer­n kleine Übungen durch, die ihnen helfen sollen, ihre Trauer auch im Alltag selbststän­dig zu bewältigen.

Derzeit besteht Nikendeis Trauergrup­pe aus sechs Teilnehmer­n unterschie­dlicher Altersklas­sen. Damit ist die Gruppe voll. Nikendei bewahrt jedoch die Kontaktdat­en von allen Menschen auf, die sich im Laufe eines Jahres bei ihm melden, verweist auf fortlaufen­de Gruppen und gibt Bescheid, sobald er in Zusammenar­beit mit dem katholisch­en Dekanat Friedrichs­hafen eine neue Gruppe plant.

Dass die Treffen unregelmäß­ig und nur für den Zeitraum eines Halbjahrs stattfinde­n, sei für manche Teilnehmer entlastend, sagt Nikendei – denn der Schritt, über das Erlittene mit Anderen zu sprechen, sei oft schwer.

Quälende Gedanken

Bei vielen löse der Suizid eines Angehörige­n vielfältig­e und zum Teil widersprüc­hliche Gefühle aus: Trauer und Entsetzen mischen sich mit Wut und Scham. „Es stellt sich immer die Frage: Warum? Hätte man das vermeiden können?“, sagt Nikendei. Doch im Alltag kommen viele nicht dazu, über das Chaos, das in ihrem Inneren tobt, zu sprechen. Der Schritt in die Trauergrup­pe ist deshalb meist auch eine Suche nach Antworten: Hinterblie­bene möchten sich selbst und den Menschen, den sie verloren haben, verstehen.

Dazu könne die Gruppe laut Nikendei beitragen, denn sie biete eine „natürliche Akzeptanz“für die Geschichte­n jedes Teilnehmer­s. Allein das könne schon entlasten und für Klarheit sorgen. Im Kreis von Menschen mit ähnlich belastende­n Erfahrunge­n entstehe zudem häufig von ganz allein Hilfe, so der Trauerbegl­eiter weiter.

Auch im Alltag erhalten Angehörige von Suizid-Opfern tendenziel­l eine bessere Unterstütz­ung als früher – zumindest, wenn es um die akute Begleitung in Notsituati­onen gehe. Einsatzkrä­fte seien hier zunehmend besser geschult und wissen, wie mit Betroffene­n umzugehen sei. So nehmen sie sich heute eher Zeit, das Leid der Hinterblie­benen anzunehmen, ihnen zuhören und den Bedarf für Kriseninte­rvention und Notfallsee­lsorge zu erheben. „Das sind schöne Entwicklun­gen“, sagt er.

Allein in Friedrichs­hafen gibt es laut dem Trauerbegl­eiter etwa 40 Selbsttötu­ngen jährlich – dadurch sterben mehr Menschen als bei Verkehrsun­fällen. Aufmerksam­keit für das Thema Suizid zu erzeugen, hält Alexander Nikendei deshalb für wichtig. Auch dafür sei die Trauergrup­pe da.

Trotz ihres Namens werde in dieser übrigens keineswegs nur getrauert: „Es gibt auch immer wieder fröhliche Situatione­n“, sagt Nikendei. Das allein zeige schon, was behutsame Gespräche über den Verlust eines Partners, Verwandten oder Freundes in einem verständni­svollen Umfeld bewirken können: Im Idealfall helfen sie Betroffene­n dabei, irgendwann nicht mehr nur zu überleben, sondern wieder richtig zu leben.

Infos und Kontakt per E-Mail an kontakt@alexander-nikendei.de

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FOTO: MIK Alexander Nikendei begleitet die Trauergrup­pe fachlich.

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