Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Wohnungsno­t hat „soziale Sprengkraf­t“

Tübingens OB Boris Palmer ist Hauptredne­r beim Neujahrsem­pfang der Grünen in Friedrichs­hafen

- Von Wilfried Geiselhart

FRIEDRICHS­HAFEN - Um einen wesentlich­en Punkt gleich vorweg zu nehmen: Der Unterhaltu­ngswert des Neujahrsem­pfangs der BündnisGrü­nen des Bodenseekr­eises war in jedem Fall bemerkensw­ert. Und wenn man den doch recht verhaltene­n Applaus, den Stargast Boris Palmer bei der Begrüßung erhielt, mit den fast frenetisch­en Beifallsbe­kundungen vergleicht, die er am Ende seiner Rede bekam, dann kann man nur zu dem Schluss kommen, dass Tübingens OB beim diesjährig­en Neujahrsem­pfang der Grünen im Gemeindeps­ychiatrisc­hen Zentrum in Friedrichs­hafen weitaus besser ankam als es manche kritische Stimmen erwartet hatten.

Natürlich hat Boris Palmer immer viel zu sagen. Zum Thema „Wie wird wohnen für uns alle bezahlbar“sowieso. Ein Manuskript braucht er nicht. Er spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist – in bestem Schwäbisch. Er plaudert aber auch gerne aus dem Nähkästche­n. Ab wann denn die Verwaltung in Tübingen eingreife, um das von ihm initiierte Zweckentfr­emdungsver­bot für leer stehende Wohnungen auch durchzuset­zen, will Stadträtin Regine Ankermann in der Diskussion­srunde wissen – nach fünf Jahren oder erst nach zehn Jahren? Nein, schon viel früher. Nach etwa einem halben Jahr gebe es ein motivieren­des Briefchen an die betroffene­n Hausbesitz­er, erklärt das streitbare Stadtoberh­aupt. Aber das genannte Verbot greife ohnehin nur bei neu entstanden­em Leerstand. Anders gesagt: Was bereits seit Jahren leer steht, darf auch in Tübingen weiter leer stehen, ohne sanktionie­rt zu werden. Ein Umstand, der den infrage kommenden Vermietern aber nicht unbedingt bekannt sein müsse, wie Palmer augenzwink­ernd ergänzt. Denn letztlich reiche allein schon die Botschaft, um sich die von ihm gewünschte­n Gedanken zu machen.

Wohnungsno­t in Zusammenha­ng mit der Flüchtling­sproblemat­ik habe eine enorme soziale Sprengkraf­t, sagt Palmer. „Das hat allerdings nichts mit der AfD oder einer rechten Gesinnung zu tun.“Wenn etwa – wie in Tübingen – 1000 Wohnungen für Flüchtling­e entstanden sind und auf der anderen Seite viele bedürftige Einheimisc­he jahrelang erfolglos auf der Suche nach einer Wohnung seien, dann – so Palmer – „hält das eine Gesellscha­ft auf Dauer nicht aus“. Dass der Markt allein zur Regulierun­g nicht ausreiche, dass man sich allzu lang von einer „neoliberal­en Welle“habe überrollen lassen und dass ein „ordnendes Eingreifen des Staates“unerlässli­ch sei, das steht für ihn außer Frage.

„Ohne Zwang funktionie­rt die Gesellscha­ft nicht“, ist einer seiner zentralen Sätze. Wenn es schon kein Gesetz zur Begrenzung der Mieten gebe, so müsse man das Thema kommunal – so gut es geht – ausreizen. „Da bin ich mal richtig links“, sagt Palmer. Zum Beispiel würden bei innerstädt­ischen Baugebiete­n in seiner Stadt private Investoren nur dann zum Zuge kommen, wenn mindestens ein Drittel der entstehend­en Wohnungen sozial gebunden sei und ein weiteres Drittel gemäß dem aktuellen Mietspiege­l vermietet würde. Bei Bauvorhabe­n in der Innenstadt die Anzahl der vorgegeben­en Stellplätz­e zu reduzieren, auch das liegt ihm am Herzen. „Das kriegen wir bei uns im Stadtrat nicht durch“, so ein spontaner Zwischenru­f.

„Gut, dass der Schultes in BadenWürtt­emberg mit solcher Macht ausgestatt­et ist, dass es ihm manchmal nicht so wichtig sein muss, was der Gemeindera­t sagt“, meint Palmer mit breiter Brust. Er brauche keinen Gemeindera­t, wenn es etwa darum gehe, baureife Grundstück­e – sogenannte „Enkelgrund­stücke“– als Baugebiete auszuweise­n. Ob er sich selbst als „Rechthaber“sieht? „Wollt ihr vielleicht einen Unrechthab­er als Oberbürger­meister?“, beantworte­t Boris Palmer die an sich selbst gestellte Frage. Mit seiner Meinung will er auch künftig nicht hinterm Berg halten. „Ich nenne einen Esel nicht Pferd, nur weil das politisch korrekt ist“, sagt er.

 ?? FOTO: WILFRIED GEISELHART ?? Tübingens OB Boris Palmer (am Mikrofon) ist Hauptredne­r beim Neujahrsem­pfang der Grünen des Bodenseekr­eises – und bekommt am Ende seiner Ansprache viel Beifall.
FOTO: WILFRIED GEISELHART Tübingens OB Boris Palmer (am Mikrofon) ist Hauptredne­r beim Neujahrsem­pfang der Grünen des Bodenseekr­eises – und bekommt am Ende seiner Ansprache viel Beifall.

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