Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Nun diskutierten auch die Frauen mit
Vor 100 Jahren: Novemberrevolution 1918 und Räterepublik 1919 in Lindau
Der Januar 1919 war in Lindau politisch hauptsächlich durch Neuwahlen und die Wahlkämpfe geprägt. Wie bereits zuvor im revolutionären Russland seit dem Jahre 1917, wählten seit Beginn der Revolution in Deutschland 1918 auch die inzwischen Millionen von Frauen in den Fabriken die – meist männlichen – Mitglieder der Arbeiterräte.
DieneueRevolut ions regierung in Berlin, der„ Rat der Volks beauftragten“aus SPD und U SPD, hatte bereits am 12. November 1918 das Frauenwahlrecht auf allen Ebenen der Gesellschaft proklamiert. Der erste Gesamtdeutsche Kongress der Arbeiterund Soldatenräte hatte mit seiner SPD-Mehrheit Mitte Dezember 1918 beschlossen, sich selbst zugunsten der Wahl von neuen Landes parlamenten un deiner verfassungs gebenden Nationalversammlung zu entmachten.
Kurt Eisner(U SPD ), BayernsRevolutions ministerpräsident, erließ zusammen mit seiner Regierung am 4. Januar 1919 ein erstes provisorisches„ Staats grundgesetz der Republik Bayern “, welches unter anderem das Frauenwahlrecht, das Recht auf Volks abstimmungen sowie die Trennung von Kirche und Staat enthielt.
Noch während am 3. Januar 1919 drei englische Offiziere im Zug von München über Lindau nach Friedrichshafen fuhren, um die dortige Rüstungsindustrie zu inspizieren, und sich in Vorarlberg sowie im Allgäu Ausschüsse bildeten, welche für einen Anschluss Vorarlbergs an Bayern aktiv wurden, setzte massiv der Doppel-Wahlkampf zu den Landtagswahlen am 12. Januar sowie den Nationalv er sammlungsw ahlen am 19. Januar ein.
Die vier größten, zur Wahl stehenden Parteien waren die neue, katholische Bayerische Volkspartei (BVP), im restlichen Deutschland das katholische Zentrum, die liberale Deutsche Demokratische Partei (DDP), der im Unterschied zum Allgäuer Bauernbund teils revolutionäre Bayerische Bauern bund(BBB) sowie die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD ). Die revolutionäre Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) von Kurt Eisner verfügte in Lindau zu jener Zeit noch über keine lokale Gruppierung.
Nun aber trat der Lindauer „Verein für Fraueninteressen“mit drei Veranstaltungen zum Thema „Deutsche Frauen lernt wählen!“in Hoyren, in Reutin sowie im städtischen Theatersaal aktiv hervor. „Frauen und Mädchen aller Stände und Konfessionen sind herzlich willkommen“, wie es in der Anzeige vom 3. Januar 1919 hieß. Über die Veranstaltung des Vereins im Theatersaal berichtete das vorübergehend an der DDP orientierte Lindauer Tagblatt darüber unter anderem wie folgt:
„Fräulein Else Muth aus München sprach eindringlich und gewinnend über ‚Frauen-Recht’ und ‚FrauenPflicht’. Die Not des Vaterlandes beruft auch die Frauen zur politischen und sozialen Mitarbeit. Ihre Mitarbeit ist unentbehrlich in der Rechtspflege, denn über Frauen sollten nur Frauen urteilen dürfen…“.
Deutlich kämpferische Töne schlug Aurelia Deffner aus Kempten auf der SPD-Wahlversammlung am Sonntag, den 5. Januar 1919, im „Colosseum“in Reutin an. Lindaus Tagblatt darüber leicht spöttisch:
„Eine neue Erscheinung hier bot Frau Deffner als sozialdemokratische Volksrednerin. Ihr anfangs hart klingendes Organ belebte sich im weiteren Verlauf der Rede, die vorgetragenen Ideen rissen die Rednerin allmählich mit sich fort… Nicht ungeschickt, wenn auch nicht tiefer eindringend, verbreitete sich Frau Deffner auch über die Trennung von Kirche und Staat sowie über die Frage der Aufteilung des Großgrundbesitzes. Man kann über die ästhetische Erscheinung der Frau überhaupt als politische Rednerin geteilter Meinung sein, die harte Zeit hat die Frau noch mehr als früher in das öffentliche Leben geführt; und da muss sie gegenüber den übernommenen öffentlichen Pflichten auch öffentliche Rechte haben und sicherlich hatte Frau Deffner nicht unrecht, wenn sie meint, für manche Fragen von großer öffentlicher Wichtigkeit habe die Frau mehr Verständnis wie der Mann.“
Gleichzeitig versuchten Lindauer Offiziere am 10. Januar 1919 mit der frei erfundenen Alarmmeldung, rund 120 Kemptener „Spartakisten“wollten per Münchner Zug Lindau angreifen, eine Hysterisierung der Stimmung. Doch es fanden sich bei bewaffneten Kontrollen im besagten Zug nach Lindau keine „Spartakisten“. Glücklicherweise wurde bei der trotzdem erfolgten Beschießung des Zuges von der Sternschanze aus niemand getroffen. Der KPD-Spartakusbund stellte sich damals noch nicht zur Wahl.
Die USPD Kurt Eisners erhielt bei den bayerischen Landtagswahlen am 12. Januar 1919 bayernweit nur vier von 181 Parlamentssitzen. Aurelie Deffner (SPD) gehörte zu den ersten sechs weiblichen Abgeordneten im Landtag. Nun sprach Kurt Eisner auf Einladung der SPD-Reutin am Abend v orden Nationalv er sammlungsw ahlen vom 19. Januar noch au feiner ausgezeichnet besuchten Versammlung in Lindau-Reutins Arbeiterlokal „Collosseum“. Am nächsten Tag nahm Eisner in Lindau sein Wahlrecht wahr. Doch auch nun erhielt die USPD von Nonnenhorn bis Bösenreutin nur 161 Stimmen, im „oberen Landkreis“keine einzige. Deutschlandweit erzielte die USPD 7,6 Prozent, die SPD 37,9 Prozent, also zusammen keine 50 Prozent. Den großen Rest erhielten die bürgerlichen Parteien. Unter den gewählten 423 Abgeordneten waren nur 37 Frauen, meist von der SPD und der USPD. Durch die Wahlergebnisse war das En devon BayernsRevolut ions ministerpräsidenten Kurt Eisner absehbar und die gegen ihn gerichtete Kritik in den Zeitungen nahm an Schärfe zu.