Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Krachende Niederlage für Theresa May

Die britische Premiermin­isterin May scheitert krachend mit ihrem Deal zum EU-Austritt

- Von Sebastian Borger und Agenturen

Das britische Parlament hat das zwischen Brüssel und London ausgehande­lte Brexit-Abkommen abgelehnt. Mit 432 zu 202 Stimmen votierten die Abgeordnet­en am Dienstagab­end in London gegen den Deal von Premiermin­isterin Theresa May. Die 62-Jährige erlitt damit die größte Niederlage in ihrer politische­n Karriere. Die opposition­elle LabourPart­ei stellte sofort nach der Abstimmung einen Misstrauen­santrag gegen die Regierung. May bot an, sich dem schon an diesem Mittwoch zu stellen.

LONDON - Großbritan­nien sieht sich mit der schwersten politische­n Krise seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontie­rt: Mit der überwältig­enden Mehrheit von 432 zu 202 Stimmen hat das Unterhaus am Dienstagab­end das Verhandlun­gspaket der konservati­ven Minderheit­sregierung von Premiermin­isterin Theresa May über den EU-Austritt abgelehnt. Neben der Opposition lehnten damit auch mehr als 100 Tory-Abgeordnet­e den Austrittsv­ertrag sowie die politische Zukunftser­klärung ab. Damit steuert das Land 73 Tage vor dem geplanten Austrittst­ermin Ende März auf einen chaotische­n Brexit („no deal“) zu.

„Das Unterhaus hat gesprochen und die Regierung wird zuhören“, teilte die Regierungs­chefin unmittelba­r nach der Abstimmung mit. Sie kritisiert­e aber die Opposition für die jetzt entstanden­e Unklarheit. Ausdrückli­ch forderte sie Labour und die anderen Opposition­sparteien dazu auf, die Misstrauen­sfrage zu stellen. Davor war Labour-Chef Jeremy Corbyn bisher zurückgesc­hreckt.

Labour will Misstrauen­svotum

Der 69-Jährige antwortete unmittelba­r: Das Unterhaus solle der „völlig inkompeten­ten“Regierung am Mittwoch das Misstrauen ausspreche­n. Allerdings haben die konservati­ven Rebellen sowie die nordirisch­e Unionisten­partei DUP Theresa May bereits vorab ihre Unterstütz­ung zugesagt – weshalb Corbyns Antrag wenig Aussicht auf Erfolg hat.

Wirtschaft­sverbände reagierten entsetzt auf die Ablehnung des Austrittsv­ertrages. „Wir brauchen sofort einen neuen Plan“, forderte Carolyn Fairbairn vom Unternehme­rverband CBI. Die Finanzstab­ilität des Landes dürfe nicht durch einen hochriskan­ten politische­n Poker aufs Spiel gesetzt werden, sekundiert­e Catherine McGuinness von der City of London. Der Verband der Lebensmitt­elproduzen­ten FDF wünscht sich eine Verschiebu­ng des Austrittst­ermins.

Die Niederlage der Regierung hat historisch­es Ausmaß. So deutlich war eine britische Regierung seit den 1920er Jahren nicht mehr gescheiter­t. Damals kämpfte eine kurzfristi­ge Labour-Minderheit­sregierung ums Überleben. Gegen LabourPrem­ier Tony Blair rebelliert­en im März 2003 139 Fraktionsm­itglieder, als es um die britische Beteiligun­g am Irak-Krieg ging. Damals rettete den Regierungs­chef aber die ToryOpposi­tion.

In den Stunden vor der Abstimmung hatte vor dem Palast von Westminste­r beinahe Volksfests­timmung geherrscht. Tausende von EU-Freunden forderten auf der Grünfläche vor dem Parlament ein zweites Referendum zur Korrektur des Volksentsc­heids, der im Juni 2016 mit 52 zu 48 Prozent den Austritt verfügt hatte. Hunderte von Brexit-Befürworte­rn warben mit Slogans wie „Austritt bedeutet Austritt“(Leave means Leave) und „Kein Deal, kein Problem“ (No deal, No problem) für ihre Sache und machten mit lautem Glockengeb­immel auf sich aufmerksam. Immer wieder gab es freundscha­ftliche Diskussion­en, keine Spur von der giftigen Atmosphäre von vergangene­r Woche, als Rechtsradi­kale prominente Abgeordnet­e und Journalist­en als „Verräter“und „Nazis“beschimpft hatten.

Allerdings konnten sich die Befürworte­r eines harten Brexits sowie die Anhänger von Großbritan­niens EU-Mitgliedsc­haft diesmal auch sicher sein, dass der Abend keine Entscheidu­ng bringen würde. Die Stimmung in der Bevölkerun­g könnte sich sehr rasch ändern, wenn das Parlament tatsächlic­h den Kurs des Landes festlegen muss.

In normalen Zeiten müsste May nach einer solchen Niederlage zurücktret­en. Doch das sind keine normalen Zeiten. Das Brexit-Votum aus dem Jahr 2016, bei dem eine knappe Mehrheit der Briten für den Austritt aus der EU gestimmt hatte, hat alte Gewissheit­en über den Haufen geworfen.

Beobachter halten May für stur

May, so scheint es, wird nicht aufgeben. Sie wird wohl versuchen, mit Brüssel nachzuverh­andeln – und den Deal dann erneut dem Parlament vorlegen. Wieder mit dem Kopf gegen die Wand, wie es britische Medien oft beschreibe­n.

Dabei wird die Zeit knapp. Immer näher rückt der Austrittst­ermin 29. März, der in Großbritan­nien sogar gesetzlich festgeschr­ieben wurde. Eine Verlängeru­ng der Frist für den EU-Austritt lehnte May immer wieder vehement ab. Sollte es keine Einigung auf ein Abkommen mit Brüssel geben, droht der ungeregelt­e Austritt mit dramatisch­en Folgen für die Wirtschaft und viele andere Lebensbere­iche.

Wenn man May etwas als Stärke auslegen will, dann ist es ihre Zähigkeit, trotz wiederholt­er Rückschläg­e an ihrem Amt festzuhalt­en. Doch längst halten Beobachter diese Widerstand­sfähigkeit für gefährlich­e Sturheit.

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FOTO: DPA Tag der historisch­en Niederlage: die britische Premiermin­isterin Theresa May beim Verlassen ihres Amtssitzes in 10, Downing Street in London – vor der Abstimmung über das Brexit-Abkommen.

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