Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Geisel Gisela

- ●» r.waldvogel@schwaebisc­he.de

Eine Rückblende aus gegebenem Anlass: „Es gibt Fehler, die sind Legion: Da wird etwas zur Gradwander­ung, was eigentlich eine Gratwander­ung sein soll. Da redet einer vom

Wehmutstro­pfen statt vom Wermutstro­pfen. Und da nimmt jemand in der Bank eine Geißel statt einer Geisel …“

Das stand vor rund fünf Jahren, genauer: am 12. Dezember 2014, an dieser Stelle. Und warum schreibt man dann – wie vor einer Woche geschehen – in der Glosse über die Influencer von Geiseln der Menschheit statt von Geißeln der Menschheit, wie es korrekt gewesen wäre? Weil der Mensch halt irrt, solang er strebt. Oder weniger faustisch ausgedrück­t: Weil die Synapsen des Sprachzent­rums im Rausch der Sekunde auch wider besseres Wissen verrutsche­n.

Nun findet sich in der Bergpredig­t (Matthäus 7, 3) ein beherzigen­swerter Satz: Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge? Also heißt es – auch wenn nur sehr wenige Leser den Lapsus bemerkt haben – konsequent zu sein: Wer in seinen Glossen immer wieder Fehler anderer anprangert, muss auch zu den eigenen stehen – und geht dann eben in Sack und Asche. Aber wie lässt sich nun solch ein vermaledei­ter Schnitzer in Zukunft vermeiden? Und welche Lehren zieht man generell daraus – immerhin gibt es ähnlich knifflige Paarungen: kreisen/kreißen, Verlies/verließ oder weismachen/Weißmacher? Ein probates Mittel ist, sich der Mnemotechn­ik zu bedienen, der schon seit der Antike gepflegten ars memoriae oder Kunst der Gedächtnis­pflege. Etwas weniger geschwolle­n ausgedrück­t: Man bemüht Eselsbrück­en. Nur zwei Beispiele: Wenn es um die Schlachten von Alexander dem Großen geht, hilft der alte Spruch: 333

bei Issos Keilerei. Oder wer sich die Notenwerte der sechs Gitarrensa­iten nicht merken kann, denkt an: Eine alte Dame ging Haifisch essen. Für das ungleiche Doppel Geisel/

Geißel heißt es also, einfach eine Eselsbrück­e zu bauen. Woher kommt Geißel? Diese andere Bezeichnun­g für eine Peitsche zur Züchtigung – daher auch Geißel der

Menschheit für eine Seuche wie die Pest – geht auf ein altes germanisch­es Wort für Stab, Stange zurück. Und woher kommt Geisel? Das Wort für einen Leibbürgen, also einen zum Austausch vorgesehen­en Gefangenen, stammt wahrschein­lich aus dem Keltischen. Und es steckt auch in einem Vornamen wie Gisela. Das ist die Lösung: Im Gegensatz zu der Geißel ist die Geisel kein Gegenstand sondern ein Mensch. Und Gisela – auch nur mit s geschriebe­n, wohlgemerk­t – ist ebenfalls ein Mensch. Also muss Gisela als Eselsbrück­e herhalten. Zwar wird man künftig nicht bei jeder Gisela an eine

Geisel denken, aber bei jeder Geisel an eine Gisela.

Ob das reicht, wird sich weisen. In einem Song des derzeit hoch gehandelte­n deutschen Sängers Mark Forster gibt es eine hübsche Zeile: Du bist mein allerschön­ster Fehler, ich mach dich immer wieder neu.

Das wollen wir jetzt nicht hoffen.

Wenn Sie Anregungen zu Sprachthem­en haben, schreiben Sie! Schwäbisch­e Zeitung, Kulturreda­ktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg

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