Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Die falsch behandelte Volkskrankheit
Bei Reizdarm werden laut Arztreport zweifelhafte Verfahren angewendet
BERLIN - Immer mehr Deutsche leiden unter einem Reizdarm – und werden dabei häufig falsch behandelt. Zu diesem Schluss kommt der Barmer-Arztreport 2019.
So hätten im Jahr 2017 zwar 1,1 Millionen Menschen die entsprechende Diagnose gestellt bekommen, die Dunkelziffer sei aber sehr hoch, da viele aus Scham nicht zum Arzt gingen, sagte Barmer-Vorstandschef Christoph Straub. Die Erkrankung sei nach wie vor ein Tabuthema. Erhebungen legten nahe, dass es in Deutschland mehr als elf Millionen Betroffene mit Symptomen wie Durchfall, Krämpfen oder Verstopfung gebe, darunter seien auch immer mehr junge Leute. Es handelt sich also um ein Volksleiden.
Und dieses werde häufig mit zweifelhaften Methoden behandelt, so der Krankenkassenchef. So hätten 2017 mehr als 130 000 Reizdarm-Patienten Computertomografien und mehr als 200 000 Betroffene Magnetresonanztomografien erhalten, obwohl sie bei dieser Erkrankung von zweifelhaftem Nutzen seien. Fragwürdig sei auch die Anwendung von Magensäureblockern bei 400 000 Patienten. Und 100 000 Personen bekämen opioidhaltige Schmerzmittel, bei denen Abhängigkeit drohe. Ein Reizdarmsyndrom sei aber keine rein körperliche Erkrankung, betonte Straub. Bei der Behandlung gehe es um einen „ganzheitlichen Blick auf Körper und Geist“. Das Einwerfen einer Tablette, wie das die TV-Werbung zur besten Sendezeit behaupte, löse die Probleme nicht.
„Eine reine Gabe von Medikamenten ist der falsche Ansatz“, meinte auch der Autor des Arztreports, Professor Joachim Szecsenyi. Er beklagte zudem, dass viele Betroffene „eine wahre Arzt-Odyssee“durchlaufen würden, bevor sie die richtige Diagnose erhielten. Das liege auch daran, dass ein sehr ausführliches Gespräch zwischen Arzt und Patient nötig sei, um anhand der Krankengeschichte dem Reizdarm auf die Spur zu kommen. „Das aber wird dem Mediziner kaum vergütet.“
Auffällig ist, dass bei den tatsächlich richtig gestellten Diagnosen der Osten unterrepräsentiert ist. Während es im Saarland und in BadenWürttemberg den höchsten Anteil von Reizdarm-Patienten gibt, sind Brandenburger, Sachsen und Sachsen-Anhalter am wenigsten betroffen. Der Erklärungsversuch von Joachim Szecsenyi lautet, dass sich die Westdeutschen wohl eher trauen würden, über das Problem mit dem Arzt zu reden.