Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Unter Zugzwang
Die Schweizer Bundesbahnen werben mit Traumgehältern um Lokführer im Südwesten
- Günther sagt: „Schauen Sie doch mal in die Zeitung oder hören Sie Nachrichten. Dann kriegen Sie eine Ahnung, warum den Job niemand mehr machen will.“Der Mann in seiner dunkelblauen Uniform ist derzeit eine der meistgesuchten Fachkräfte überhaupt, international händeringend umworben. Günther ist Lokführer von Beruf.
Inzwischen lassen Nachbarländer wie die Schweiz alle Scham fahren und werben sogar mit Flugblättern im süddeutschen Raum, und zwar unmissverständlich: „Mach was Großes, beweg die Schweiz mit uns“, heißt es auch auf allen Kanälen im Internet – egal ob auf Facebook, Instagram oder YouTube. Dabei ist die Erwähnung von einer Ausbildungsvergütung in Höhe von umgerechnet 3350 Euro monatlich natürlich ebenso wenig Zufall wie die Nennung der Einstiegsgehälter für ausgelernte Lokführer von rund 70 000 Euro. Nach Angaben der SBB (Schweizer Bundesbahnen) kann diese Zahl im Laufe des Berufslebens sogar sechsstellig werden.
Günther steht am Lindauer Hauptbahnhof neben seinem Triebwagen. In ein paar Minuten wird der Zug – auf die Minute pünktlich, wie sich herausstellen soll – irgendwohin ins Süddeutsche aufbrechen. Ohne Genehmigung der Konzernzentrale dürfe er eigentlich gar nichts sagen, zu den Medien erst recht nicht, betont Günther, der in Wirklichkeit anders heißt. Er bitte um Diskretion. Nur so viel sagt er dann doch noch, bevor er wieder einsteigt: „Natürlich haben wir das mitgekriegt, wie die Schweizer Werbung machen.“Und er könne junge Kollegen verstehen, die sich von solchen Gehältern über die Grenze lotsen ließen. Für ihn aber sei das nichts mehr. „Einen alten Baum verpflanzt man nicht.“Auch wenn er sich als Lokführer in Deutschland schon lange nicht mehr wertgeschätzt fühle.
Was Günther und nicht wenige seiner rund 30 000 Arbeitskollegen in den Triebwagen stört, sind unter anderem die Negativschlagzeilen, auf die die Deutsche Bahn seit vielen Jahren abonniert zu sein scheint. Der entscheidende Faktor für die Qualität eines Verkehrsmittels ist die Pünktlichkeit und damit die Verlässlichkeit. Diese belief sich im Jahr 2018 nach Angaben der Deutschen Bahn im Fernverkehr auf 74,9 Prozent. Anders ausgedrückt: Ein Viertel aller Züge war unpünktlich – wobei die Bahn noch jeden Zug als pünktlich bewertet, der weniger als sechs Minuten Verspätung hat. Die Folge sind oft genug verpasste Züge, wenn ein Zubringer auch nur um drei Minuten – also im Selbstverständnis der Bahn pünktlich – zu spät ist.
Das Bild in der Öffentlichkeit eines schlechten Schienenverkehrs drückt nicht nur auf die Stimmung der Fahrgäste. Sie kommt auch beim Zugpersonal an, das im täglichen Umgang – Gewerkschafter sprechen auch gerne von Nahkampf – mit den Passagieren für die Fehler einzutreten hat, die in den Augen nicht weniger Beschäftigter in der Konzernzentrale gemacht werden. Davon abgesehen: Arbeiten im Schichtbetrieb mit gelegentlichen Übernachtungen auswärts sowie Dienste am Wochenende haben den Mythos vom Lokomotivführer, für den so viele kleine Jungs schwärmten, längst verblassen lassen.
Auch die millionenfach verkaufte Geschichte von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer hat nur noch nostalgischen Reiz. Inzwischen taucht der Triebwagenführer, wie der Lokführer heute korrekt heißt, in den verschiedenen Ranglisten der Traumberufe unter Kindern nicht mehr auf. Die zehn ersten Plätze belegen Jobs wie Tierarzt, Astronaut oder Prinzessin. Eine Folge davon, es fehlt der Nachwuchs: „Wir wollen in diesem Jahr über 2000 Lokführer einstellen“, sagt ein Sprecher aus der Konzernzentrale der Deutschen Bahn in Berlin auf Anfrage. Was sagt die Deutsche Bahn zu den gezielten Abwerbeversuchen der Schweizer Bundesbahnen (SBB)? „Der Wettbewerb um Personal ist hart, das betrifft die gesamte Branche. Und Lokführer sind besonders gefragt.“Da fertig ausgebildete Lokführer auf dem Arbeitsmarkt quasi nicht zu bekommen seien, bilde die DB intensiv selbst aus.
Wie? Der Bahnsprecher erklärt dazu: „Die Qualifizierung von neuen Lokführern dauert zwischen zehn Monaten bei Quereinsteigern und drei Jahren bei Auszubildenden.“Die Bahn habe auch „nochmal eine Schippe draufgelegt, um die Qualität für die Kunden zu verbessern“. Und die Bahn selbst – wirbt auch sie im Ausland? „Auch wir gehen erste Schritte in der grenzüberschreitenden Rekrutierung“, sagt der Sprecher. Gemeint ist die gezielte Anwerbung von Fachkräften, zum Beispiel in Rumänien oder Griechenland. „Die erfolgten Einstellungen aus diesen Ländern sind noch gering, aber wir wollen das ausbauen“, sagt der Sprecher. Und der Verdienst? „Ein LokführerAzubi bekommt, je nach Lehrjahr, zwischen 900 und 1100 Euro im Monat, Quereinsteiger bekommen während der Qualifizierung rund 30 000 Euro jährlich. Ein ausgebildeter Lokführer verdient dann im Jahr, je nach Berufserfahrung, zwischen 38 000 und 50 000 Euro inklusive Zulagen und Weihnachtsgeld“, sagt der Sprecher.
Sein Pendant bei der SBB Christian Ginsig klingt am Telefon fast schon ein bisschen amüsiert, wenn er an die Flugblattaktion im Südwesten denkt. „Die Berufswerbung wurde bewusst im süddeutschen Raum gespielt, der alemannische Bereich ist kulturell nah beieinander.“Entsprechend habe man sich auf das grenznahe Ausland fokussiert. Es sei jedoch nicht verboten, wenn sich Leute auch aus anderen Bundesländern meldeten.
Aber wie passt es überhaupt zur Schweiz, in der die Bürger ihre Bundesbahnen teilweise wie ein Nationalheiligtum betrachten, dass es Personalmangel in den Loks gibt? „Ich muss sagen, bei uns gibt es keinen so großen Mangel wie im Ausland“, betont Ginsig. Zwar sei man auf der Suche nach rund 150 neuen Leuten – nicht aber, um den geregelten Betrieb sicherzustellen, sondern um auf anstehende Pensionierungen vorbereitet zu sein. Er sagt auch, man sei weit davon entfernt, dass Personalmangel Pünktlichkeit und Verlässlichkeit der Schweizer Bahn beeinträchtige. Zum Vergleich: Ein Schweizer Zug ist dann pünktlich, wenn er mit weniger als drei Minuten Verspätung ankommt. Im ersten Halbjahr 2018 verzeichnete die SBB nach eigenen Angaben trotz der strengeren Kriterien als in Deutschland eine Pünktlichkeit aller Personenzüge von knapp über 90 Prozent.
Und doch ist es trotz des besseren Rufes und der deutlich höheren Gehälter auch in der Schweiz keine leichte Übung, Nachwuchs zu gewinnen. Christian Ginsig: „Die Bereitschaft zu Schicht- und Wochenendarbeit ist einfach nicht mehr so da.“Darüber hinaus spiele auch die gesellschaftliche Diskussion um Automatisierung und Digitalisierung eine Rolle für die Wahrnehmung der Zukunftsaussichten des Lokführerberufs. Doch Ginsig beruhigt: „Wir werden sicher keine Züge ohne Lokführer fahren lassen.“Allein schon wegen möglicher Störfalle, die menschliches Denken und Handeln unerlässlich machten. Über die laufende Anwerbungsoffenisve in Süddeutschland zeigt sich Ginsig ernüchtert: „Der Erfolg ist mäßig, das muss man ganz klar sagen.“Bislang hätten sich erst rund 40 Personen gemeldet. Eine Hürde könne sein, dass bei der SBB eine zweite Schweizer Landessprache obligatorisch sei.
In den Reihen der deutschen Lokführergewerkschaft GDL nimmt man die Entwicklung gelassen zur Kenntnis. Lutz Dächert, Vorstand im GDLBezirk Süd-West, sagt: „ Dass die SBB so auf uns zugehen, ist neu. Ein sicheres Zeichen dafür, dass sie einen massiven Unterbestand haben. Ich sehe das als Beginn eines Wettbewerbes, der auf jeden Fall zunehmen wird.“Ein Umstand, der die Position der ohnehin für ihr Selbstbewusstsein bekannten GDL in Zukunft noch stärken wird, wie Dächert glaubt. „Wir haben ja in Deutschland jetzt schon Bahnen, die nicht ganz unerheblich über Tarif bezahlen.“
Über das mäßige Ansehen des Berufsstands ärgert sich der Funktionär und sieht als Ursache die Manager in der Konzernzentrale. „Wenn in der Vergangenheit wo eingespart werden musste, dann waren die Lokführer und Zugbegleiter dran“, schimpft Dächert. Die Arbeit sei immer mehr gestrafft worden. Die Folge: „Viele Kollegen können eigentlich nicht mehr.“Einen Exodus in Richtung Schweiz sieht der GDL-Vorstand aber dennoch nicht. „Die Meldungen über Wechsel sind eher marginal.“In der Schweiz herrschten weit höhere Lebenshaltungskosten, was den Gehaltsunterschied wieder relativiere. „Und man darf die Bedeutung des Lebensmittelpunktes nicht vergessen“, sagt Dächert.
Einer, der seinen Lebensmittelpunkt immer noch in Deutschland hat – in Konstanz, um genau zu sein – fährt bereits seit 2002 als Lokführer in der Schweiz. Seinen richtigen Namen will er nicht nennen, er soll an dieser Stelle Max heißen. Max ist 40 Jahre alt und fuhr nach seiner Ausbildung zunächst im S-Bahn-Betrieb von Stuttgart. „Die Gehaltsentwicklung war damals beschränkt, Erhöhungen meist nur tariflich.“Ihn habe aber auch die Neugierde weggelockt, „ich mag die Berge und die Region“.
Die Aufbauschulungen habe er als anspruchsvoll, aber händelbar erlebt. „Auch wenn viele Dinge ähnlich sind, hat doch jedes Land sein eigenes Reglement“, erklärt Max. Überhaupt keine Probleme habe er bei der Integration in die Schweizer Kollegenschaft gehabt. „Die Schweizer sind sehr offen, wenn man sich auf sie einlässt. Die persönliche Note steht im Vordergrund. Und das ist bis heute so geblieben.“Obwohl sich der Einsatzort von Kreuzlingen inzwischen nach St. Gallen verlagert habe.
Aber jenseits von Geld- oder Integrationsfragen ist es vor allem die Anerkennung als Lokomotivführer, die Max den Schritt über die Grenze „keinen Augenblick“hat bereuen lassen: „In der Schweiz hat man einen ganz anderen Status, weil man Teil eines öffentlichen Verkehrssystems ist, das funktioniert.“Es mache Spaß, daran mitzuwirken. Man werde anders behandelt als in Deutschland, auch von den Fahrgästen. „In der Schweiz ist die Bahn ein Teil der Schweiz, sie gehört zum Schweiztum dazu.“Deutschland sei indes ein Autofahrerland, Bahnfahren werde nicht eigenständig, sondern oft nur als Alternative zum Auto betrachtet, sagt Max, der eine Rückkehr zur Deutschen Bahn ausschließt.
„Der Wettbewerb um Personal ist hart, das betrifft die gesamte Branche.“
Die Sichtweise des Sprechers der Deutschen Bahn
„Wir werden sicher keine Züge ohne Lokführer fahren lassen.“
Christian Ginsig, der Sprecher der Schweizerischen Bahnen