Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Der Einzelkämpfer
Tübingens grüner OB Boris Palmer unterhält das Land mit seinen Themen und Torheiten – Ändern will er sich nicht
TÜBINGEN - Boris Palmer ist angeschlagen. Tübingens Rathauschef hat’s grippal erwischt, der Rachen kratzt, der Hals ist geschwollen, womöglich Nebenwirkungen seiner Berlinreise. Aus der Hauptstadt hat er neben Krankheit auch jede Menge Schlagzeilen mitgebracht. Ein Stapel zerknitterter Zeitungen im Sekretariat seines Dienstzimmers dokumentiert die schon übliche mediale Aufregung, wenn Palmer den kommunalen Alltag der Studentenstadt hinter sich lässt. „Boris Palmer – ,Es ist einfach furchtbar, was Sie mir hier zeigen’“, heißt es in einer Überschrift. Oder: „Boris Palmer in Berlin – Hinter feindlichen Linien“Und: „So versteckte Berlin seine Dealer vor Boris Palmer“. „Wahnsinn“, sagt der 46Jährige und lacht, „das haben die wirklich gemacht.“Auftakt zu einem gemeinsamen Tag mit Deutschlands umstrittenstem Oberbürgermeister.
Die Reise nach Berlin kam ausgerechnet auf Einladung der CDU zustande, weil der Grüne im Dezember über Berlin als den „nicht funktionierenden Teil Deutschlands“geschimpft hatte. Was folgte, war die übliche Palmer-Spirale: Erst kommt der große Aufschrei, dann die ersten Kommentare, eigentlich liege der Provinzler nicht ganz falsch. Nur der Blick auf ihn selbst verändert sich nie: Palmer bleibt der „Irre“(Berlins Grünen-Chefin Antje Kapek). In Porträts wird er „Der Zündler“genannt, „Der Rechthaber“, „Der Streitsucher“, „Der Grüne Sarrazin“, vor allem solle er einfach „mal die Fresse halten“(die Grüne Canan Bayram 2017). Das will Boris Palmer aber nicht, das kann er gar nicht.
Als Angela Merkel (CDU) 2015 appellierte „Wir schaffen das!“und manch Grüner am liebsten jeden einzelnen Flüchtling mit Blumen empfangen hätte, da setzt Palmer einen seiner gefürchteten FacebookBeiträge ab: „Wir schaffen das nicht!“Die Erschütterungen seiner Kritik an der Flüchtlingspolitik sind bis heute auch in Tübingen zu spüren. Auf eine Hauswand in der Altstadt hat jemand gesprüht: „Peinlich-Pubertär-Populistisch-Palmer“. Unter Studenten kursieren Sticker mit Aufschriften: „Anti-Palmer-Aktion“oder „Ach nee, der auch noch“.
Am Vormittag trifft sich der OB mit Luzia Köberlein, Tübingens Beauftragter für Gleichstellung und Integration, es geht um Sprachkurse, um Arbeit für Flüchtlinge. Und auch um die anstehende Menschenrechtswoche – zu der war der Oberbürgermeister zuletzt nicht mal eingeladen. Weil er mit „Menschenrechtsfundamentalismus“ein Unwort des Jahres geprägt hatte. Da war er wieder, Palmer, der Zündler. Mit den Löscharbeiten ist Luzia Köberlein überfordert: „Ich sitze zwischen den Stühlen“, sagt die Integrationsbeauftragte, weil sie ihren Chef zwar schätze und möge, aber nicht mit allem einverstanden sei, was dieser sage: „Das führt zu Loyalitätskonflikten.“
Nicht wenige Grüne haben Palmer die Loyalität ganz aufgekündigt, reden will kaum jemand über ihn. Die Grünen-Landesvorsitzenden in Baden-Württemberg, Sandra Detzer und Oliver Hildebrand, antworteten kürzlich der „Süddeutschen Zeitung“auf Anfrage schriftlich und mit heftigen Sätzen: „Boris Palmer spricht nicht für die Grünen. Er sucht sich Verbündete, die für uns keine sind. Er unterstützt politische Vorschläge, die wir ablehnen. Er bedient sich einer Wortwahl, die wir für gefährlich halten.“Man beobachte „sein Abdriften in den Rechtspopulismus“mit „großem Befremden“. Mehr Distanz geht kaum.
Palmer andererseits spricht von „Gesinnungspolitik“bei den Grünen, die keine andere Denke akzeptieren würden und sich an ihm abarbeiteten, allerdings vergeblich: „Meine innerparteilichen Gegner haben keine Sanktionshebel gegen mich“, sagt der direkt vom Volk gewählte Oberbürgermeister der „Schwäbischen Zeitung“. „Ich verstehe, dass sie das rasend macht.“Den Druck von „Gesinnungspolitikern“in Parteigremien spürt Palmer zwar nicht, ist er gleichzeitig aber auch gebunden, gar gefangen in seinem schwäbischen Fachwerk-Biotop?
Früh als hochbegabt eingestuft
Boris Palmer, das gerät bisweilen in den Hintergrund, zählt zu den fähigsten Politikern der Grünen. Schon früh als hochbegabt eingestuft, macht er sich später einen Namen als Wortführer bei den Stuttgart-21-Gesprächen. Die Deutsche Bahn, beeindruckt von seiner Rhetorik und Sachkenntnis, bietet ihm damals halb im Ernst einen Job an. 2004 verliert Palmer noch bei der OB-Wahl in Stuttgart, 2006 klappt es dann 30 Kilometer südlich der Landeshauptstadt. Tübingen, vom öffentlichen Dienst bisweilen genauso geprägt wie gelähmt, hat er seitdem zu einer Modellstadt entwickelt, die Wachstum und Ökologie vorbildlich miteinander verbindet. Der Kopf dahinter, heißt es lange, sei für Höheres bestimmt, er sei die logische Nachfolge des Parteikollegen und Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. Diese Stimmen sind nicht nur leiser geworden: Sie sind verstummt. Erstickt vom medialen Furor, den der einstige Hoffnungsträger regelmäßig entfacht.
Kretschmann, erzählt Palmer im Gespräch, habe ihm einmal gesagt, dass das, was er tue und wie er es tue, in Tübingen noch funktioniere. Für alles darüber hinaus brauche er die Partei und die Presse. Aber will er sich überhaupt ändern? „Das überlege ich mir noch.“Wie er diese Antwort mehr grummelt als ausspricht, verschnupft und über den Schreibtisch gebeugt, klingt es eindeutig nach: nein.
Den Weg in die Politik wählte Boris Palmer einst, weil er bemerkt habe, „dass ich als Einzelner Schwierigkeiten habe, wirklich etwas zu bewegen“– das sagte er schon vor mehr als 15 Jahren. An dieser Haltung hat sich nichts geändert. Zwar identifiziert er sich mit der ökologischen Idee, der Parteienkosmos aber und der Palmer-Kosmos finden nicht zur Deckungsgleichheit. Er wirkt vielmehr wie ein Parteiloser mit Parteibuch. Ein Einzelkämpfer, wie auch sein Vater einer war, der legendäre Remstal-Rebell Helmut Palmer.
Blaupause für den Wutbürger
Wird Boris Palmer gerne als der Wutbürgermeister beschrieben, lieferte sein Vater die Blaupause für den Wutbürger. 1930 geboren als unehelicher Sohn einer Metzgereiverkäuferin und eines jüdischen Metzgers, erlebt er eine traumatische Kindheit, als „Halbjude“gehänselt und gedemütigt. Die Verletzungen verheilen nie. Auch nicht, als der kundige Obstbauer die OeschbergPalmer-Schnittmethode entwickelt und diese anwendet – bei eigenen oder auch bei fremden Bäumen, gefragt oder ungefragt, legal oder illegal. 40 Vorstrafen kassiert er, rund 420 Tage verbringt er im Gefängnis, einmal beschimpft er einen Gerichtsbeamten, von welcher „NaziMuttermilch“dieser gesoffen hätte. Steht Helmut Palmer mal nicht vor Gericht, tritt er in seinem Kreuzzug gegen Bürokratie, Staat und Politikfilz bei Bürgermeisterwahlen an, rund 300-mal – gewinnen kann er keine. Oft im Schlepptau: Sohn Boris.
Bei Guerilla-Aktionen in der Obstplantage hält der Filius die Leiter, bei Wahlkämpfen fällt ihm manchmal eine Nebenrolle zu. Dann fragt der Vater vor Publikum, was Obstbaumschnitt und Politik gemeinsam hätten. Der Sohn antwortet unter Gelächter und Applaus: „Man muss die Oberen stutzen, damit die Unteren Licht bekommen.“
Auch Boris Palmer beherrscht den Obstbaumschnitt, auch bei ihm bietet sich die Analogie zur Politik an, wobei Kritiker womöglich an einen Kahlschlag denken. An die radikale Politikmethodik des Remstal-Rebellen allemal. „Es gibt keinen Grund, mich für meinen Vater zu schämen“, sagt Boris Palmer, der bei dem naheliegenden Vergleich aber nur eine Übereinstimmung sieht: „Wenn es darum geht, bei ungerechtem Druck nicht nachzugeben, dann bin ich wie mein Vater. Dann halte ich dagegen.“
Das Problem, das manche Menschen mit Boris Palmer haben, liegt allerdings darin, dass ihm dieses „Dagegenhalten“als innerer Kompass dient. Im Großen und nicht zuletzt im Kleinen.
Mittagessen am Neckar auf einer sonnengefluteten Terrasse, der Redakteur bestellt Apfelschorle. Noch bevor das Getränk auf dem Tisch steht, klärt Palmer auf: „Zuckersüß“, das Gesöff komme von sonst woher, der Inhaber aber weigere sich, ein regionales Produkt auf die Karte zu setzen – deshalb trinke er hier keine Apfelschorle mehr. Der Zuhörer ahnt: Viel hat irgendwann wahrscheinlich nicht gefehlt und Palmer hätte zum Kahlschlag angesetzt und die in der Tat scheußliche Apfelschorle via Facebook zum bundesweiten Politikum gemacht. Es wäre nicht das erste Mal gewesen.
Einst wollte Palmer in einer Gaststätte in Albstadt auch Apfelschorle und Vesper bestellen, als die Bedienung die Sonnenterrasse wegen Überfüllung schloss. Der Oberbürgermeister flippte aus: „Wenn mr aufm Rathaus so schaffe dät wie hier, dann dätet ihr mit der Mistgabel nauf ganga“, wurde seine Reaktion überliefert. Auf Facebook gepostet, machte die Posse um die „Servicewüste“ bundesweit Karriere. Genauso wie kürzlich die „Hilfssheriff-Affäre“, als Palmer nachts in Tübingen mit einem Studenten aneinandergeriet, der ihm forsch begegnete („Ach nee, der auch noch“). Zeuginnen berichteten von einer „slapstickartigen Verfolgungsjagd“und einem Oberbürgermeister im Ausnahmezustand: „Der stand vollkommen neben sich.“
Innere Verletzungen
Elmar Braun (Grüne) kennt diese speziellen Palmer-Momente. Er kennt auch noch den alten Palmer, wie dieser mit seinem Sohn auf Marktplätzen stand, mal mit dem Obstwagen, mal im Rebellenmodus. „Mich hat das beeindruckt“, sagt der 62-Jährige am Telefon, deshalb sei er einst selber in die Politik gegangen und wurde, mit einem anderen Stil, in Maselheim (Landkreis Biberach) der erste grüne Bürgermeister in Deutschland. Er weiß um Boris Palmers innere Verletzungen aus dem Umgang mit dem schwierigen Vater, er weiß um die manchmal pfauenhafte Eitelkeit des Tübinger Oberbürgermeisters. Und er weiß um diesen inneren Widerspruch: „Der Boris ist sehr intelligent“, sagt Braun, „schlau ist er aber nicht.“Was der Politveteran bedauert, aber nur zum Teil: „Wir wollen doch Typen haben.“
Die „Type“sitzt im Nadelstreifenanzug und ohne Apfelschorle am Neckarufer in der Sonne, Selbstzweifel plagen ihn nicht: „Ich bin mit mir im Reinen“, sagt Palmer, auch wenn ihm für den Politikbetrieb vielleicht „etwas fehle“, das Geschmeidige, das Gestelzte, die Neigung zu Hinterzimmerabsprachen: „Nach solchen Regeln spiele ich nicht.“
Aber vielleicht ändern sich ja die Spielregeln. Sei früher die Rede gewesen von der formierten, der von Sonderinteressen befreiten Gesellschaft, hätten inzwischen sogar die Volksparteien ihre Bindekraft verloren, sinniert der Politiker. Die Zeit der Langweiler und der Bürokraten gehe zu Ende. „Jetzt sind Persönlichkeiten gefragt.“
Für ihn, den Einzelkämpfer, mag das ein verheißungsvoller Gedanke sein: Nicht er muss sich ändern, sondern die Welt tut es – und beides findet dann doch noch zu einer Deckungsgleichheit. Und wenn nicht, muss sich niemand um Boris Palmer sorgen, der folgt zu allen Zeiten seinem inneren Kompass.
„Meine innerparteilichen Gegner haben keine Sanktionshebel gegen mich.“
„Ich bin mit mir im Reinen.“
„Der Boris ist sehr intelligent, schlau ist er aber nicht.“