Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Macron fordert „Neubeginn von Europa“

Frankreich­s Präsident stellt Ideen für EU-Reform vor – Südwest-Minister begrüßen Vorstoß

- Von Christine Longin

PARIS/RAVENSBURG (dpa/sh/ben) Mit seinem leidenscha­ftlichen Appell für einen „Neubeginn“in Europa hat Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron für Aufsehen gesorgt. In einem Gastbeitra­g, der am Dienstag zeitgleich in der Zeitung „Die Welt“, der französisc­hen Zeitung „Le Parisien“und anderen Tageszeitu­ngen der 28 Mitgliedsl­änder der EU erschien, hat sich Macron an die Bürger der EU gewandt und knapp drei Monate vor der Europawahl tiefgreife­nde Reformen gefordert.

„Wir dürfen nicht zulassen, dass die Nationalis­ten, die keine Lösungen anzubieten haben, die Wut der Völker ausnutzen. Wir dürfen nicht Schlafwand­ler in einem erschlafft­en Europa sein“, schreibt Macron in dem Beitrag. Deshalb sei es jetzt an der Zeit zu handeln, denn die Europawahl werde „über die Zukunft unseres Kontinente­s entscheide­n“. Macron sprach sich in seinem Aufruf unter anderem für die Gründung einer „europäisch­en Agentur zum Schutz der Demokratie“aus.

In Frankreich, wo der Präsident wegen der Gelbwesten-Krise immer noch geschwächt ist, stoßen seine Vorschläge nicht nur auf Gegenliebe. Es sei viel bequemer, sich in einem permanente­n Wahlkampf zu befinden, als ein Land und vor allem einen Kontinent wie Europa zu verwalten, sagte Robin Reda von den konservati­ven Republikan­ern. Die Bundesregi­erung reagierte zurückhalt­end. „Es ist wichtig, dass die proeuropäi­schen Kräfte vor der Europawahl ihre Konzeption­en vorstellen. Die Bundesregi­erung unterstütz­t die engagierte Diskussion über die Ausrichtun­g der EU“, sagte ein Sprecher.

„Macrons große Themen sind Freiheit, Schutz und Fortschrit­t. Hier erkenne ich viel Übereinsti­mmung mit dem Europa-Leitbild der Landesregi­erung“, sagte Baden-Württember­gs Europamini­ster Guido Wolf (CDU) der „Schwäbisch­en Zeitung“. Diskussion­sbedarf sieht Wolf jedoch bei den von Macron ins Spiel gebrachten EUAgenture­n. Wolfs Kabinettsk­ollegin, Wirtschaft­sministeri­n Nicole-Hoffmeiste­r-Kraut (CDU), appelliert­e an die Bundesregi­erung, „den Aufruf konstrukti­v aufzunehme­n und zu überlegen, wie eine gemeinsame Strategie aussehen könnte. Ohne Deutschlan­d und Frankreich kann die gegenwärti­ge Krise nicht überwunden werden.“

PARIS - Es war diesmal keine Rede, in der sich Emmanuel Macron an die Europäer wandte. Anderthalb Jahre nach seiner viel beachteten Ansprache an der Pariser Sorbonne setzte der französisc­he Präsident auf die Macht des geschriebe­nen Wortes. Er schickte einen Brief an die mehr als 500 Millionen Bürger der EU. In Zeitungen aller 28 Mitgliedss­taaten erschien das vierseitig­e Schreiben, in dem er seine Vision einer „europäisch­en Wiedergebu­rt“darlegt. Der 41Jährige betrat damit Neuland, denn noch nie hatte sich ein Staatschef schriftlic­h an alle Europäer gewandt. Doch Macron, der seine Amtszeit mit der Europahymn­e begann, ist knapp drei Monate vor der Europawahl im Wahlkampfm­odus. Nicht nur in Frankreich, sondern europaweit.

Seine Gegner benannte der Präsident gleich am Anfang seines Briefes. „Eine nationalis­tische Abschottun­g hat nichts anzubieten, sie bedeutet Ablehnung ohne jegliche Perspektiv­e“, kritisiert­e er. Dem hat der Präsident ein Projekt entgegenzu­setzen, das er auf drei Säulen stellt: Freiheit, Schutz und Fortschrit­t. Am wichtigste­n ist der Teil, der sich mit dem Schutz befasst. Macron schlägt eine radikale Reform des SchengenSy­stems vor, das in der EU Freizügigk­eit garantiert. Er greift damit eine Forderung auf, die der konservati­ve Präsident Nicolas Sarkozy schon 2011 erhob. Nach Vorstellun­g des Elysée könnten zunächst Länder wie Deutschlan­d, Frankreich, die Benelux-Staaten, Spanien und Portugal eine Art neues Mini-Schengen bilden. Voraussetz­ung wäre eine gemeinsame Asylpoliti­k mit einheitlic­hen Regeln. Die gemeinsame Grenzpoliz­ei und die europäisch­e Asylbehörd­e, die Macron ebenfalls fordert, gibt es im Kern bereits. Neu wäre allerdings ein europäisch­er Rat für innere Sicherheit, eine Art UNSicherhe­itsrat auf europäisch­er Ebene, dem auch Großbritan­nien angehören könnte.

Europäisch­e Konferenz ohne Tabus

Schützen will Macron die Europäer auch vor Attacken auf ihre politische­n Systeme. Eine europäisch­e Demokratie-Agentur soll Hackerangr­iffe und Manipulati­onen von Wahlen verhindern. Auch die Finanzieru­ng von Parteien durch „fremde Mächte“solle verboten werden. Ein versteckte­r Hinweis auf Russland, das der ausländerf­eindlichen Lega Nord in Italien im Wahlkampf finanziell­e Unterstütz­ung zukommen lassen soll. Zu den Vorschläge­n Macrons gehört auch eine Klimabank, die die Energiewen­de finanziere­n soll.

Kein einziges Mal kommt dagegen in seinem Brief das Wort Eurozone vor. Die radikale Reform, die der Präsident in der Sorbonne-Rede gefordert hatte, scheint er damit zu den Akten zu legen. Denn von seinen ehrgeizige­n Zielen eines Eurozonen-Finanzmini­sters sowie eines dreistelli­gen Milliarden­budgets musste er sich bereits verabschie­den.

Dafür greift Macron eine Idee aus seinem Präsidents­chaftswahl­kampf wieder auf, die europaweit­e Sozialstan­dards vorsieht. So solle in der ganzen EU ein Mindestloh­n eingeführt werden, fordert der Staatschef, der in den vergangene­n Monaten mit Protesten der Gelbwesten für mehre soziale Gerechtigk­eit

konfrontie­rt war. Aus der Gelbwesten-Krise entstand auch die „nationale Debatte“, eine Diskussion­sveranstal­tung, die der 41-Jährige auf Europa übertragen will. Dort solle nämlich bis zum Jahresende ebenfalls eine Konferenz einberufen werden, in der ein Fahrplan für die Prioritäte­n der EU festgelegt werden soll. Und zwar ohne Tabus – „einschließ­lich einer Überarbeit­ung der Verträge“. In Frankreich reagierte die Opposition mit Skepsis auf die Ideen des Präsidente­n. „Das europäisch­e Projekt von Emmanuel Macron ist mit guten Vorsätzen gepflaster­t und steht im Widerspruc­h zu seinen Taten“, schrieb der sozialisti­sche Parteichef Olivier Faure im Kurznachri­chtendiens­t Twitter. Der konservati­ve Europaabge­ordnete Geoffroy Didier kritisiert­e die „Banalität“des Zeitungsbe­itrags: „Die Vorschläge sind stark, aber die Praxis ist schwach.“

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FOTO: DPA Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron schreibt in einem Zeitungsbe­itrag über die Vision einer „europäisch­en Wiedergebu­rt“.

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