Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Die zweite Chance für Lebensmittel
In Deutschland wird tonnenweise Essen verschwendet – Lokale Initiativen machen sich auf unterschiedlichste Weise nützlich
RAVENSBURG/BIBERACH - Laut rattern die zwei rostigen Bollerwagen über die Pflastersteine. Der ein oder andere Passant erkennt die Gruppe, die die Wagen hinter sich herzieht. Es sind die Foodsaver, zu deutsch Lebensmittelretter, die ihre wöchentliche Runde über den Biberacher Wochenmarkt antreten. Ihre Mission: Lebensmittel retten, die bei den Marktbeschickern sonst im Müll landen würden. Benny streckt seinen Kopf durch den Schlitz der Plastikplane, die den Marktstand im Winter vor der Kälte schützt. „Habt ihr was für uns?“Josef Häusler deutet auf ein paar Karotten im Eck. „Die könnt ihr nehmen. Die krieg ich nicht mehr los“, sagt der Obst- und Gemüseverkäufer.
Die Foodsaver aus Biberach unterstützen mit ihrem wöchentlichen Rundgang über den Markt die Initiative Foodsharing. Deren Netzwerk ist groß: Mehr als 200 000 Mitglieder, hauptsächlich in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern, engagieren sich. Sie haben gut zu tun. Rund 55 Kilogramm Lebensmittel pro Person und Jahr werden weggeschmissen, das ergibt mehr als 11 Millionen Tonnen bundesweit. Mehr als 60 Prozent davon entstehen im Privathaushalt. Gaststätten und Kantinen sowie die Lebensmittelindustrie sind für jeweils rund 17 Prozent, der Handel für fünf Prozent verantwortlich. Eine Studie des WWF beziffert den Abfall in Deutschland sogar auf mehr als 18 Millionen Tonnen.
Vermeidung durch gute Planung
„Solche Zahlen sind erschreckend“, sagt Foodsaver Rainer. Dass der Großteil dieser Abfälle vermeidbar wäre, ist seine Motivation, bei Foodsharing in Biberach mitzumachen. Mittlerweile ist die Gruppe beim letzten Marktstand angekommen. „Ich hab heut nichts für euch“, sagt die Frau hinter der Kasse. Die Foodsaver sind trotzdem zufrieden. „Das Wichtigste ist ja, dass keine Lebensmittel im Müll landen“, erklärt Pascal. Und die Vermeidung beginne ja schon damit, dass die Händler richtig kalkulieren und produzieren.
Genau dort setzen andere Initiativen an, wie die Solidarische Landwirtschaft (Solawi), ein Projekt, das sich bundesweit für verantwortungsvolle Landwirtschaft einsetzt. Seit 2014 gibt es eine Solawi-Gruppe in Bad Waldsee, die ihr eigenes Gemüse anbaut und erntet. „Heute versorgen wir 80 Haushalte mit frischem, regionalem Gemüse“, sagt Landwirt Stefan Grundner. „Den Schwund, der in den Läden entsteht, wenn Gemüse nicht gekauft wird, den gibt es bei uns nicht“, erklärt Grundner das Konzept. Viele der Mitglieder kämen gelegentlich auf den Acker, um mitzuhelfen. „Die Wertschätzung dem Gemüse gegenüber wächst dabei ungemein.“Zudem werde bei Solawi auch das Gemüse verteilt, das normalerweise gar nicht in den Handel gelangt, weil es den Richtlinien nicht entspricht. Rund ein Drittel des Gemüses werde hierzulande aussortiert und in den Müll geworfen, nur weil es krumm gewachsen ist.
Gerade auf aussortierte Produkte setzt das Konstanzer Unternehmen Knödelkult. Die Gründer stemmen sich mit Knödeln aus dem Glas, hergestellt aus altem Brot, gegen die Lebensmittelverschwendung. Zu Beginn zogen Matze Helmke, Janine Trappe und Felix Pfeffer dafür selbst von Bäckerladen zu Bäckerladen und sammelten abends das nicht verkaufte Brot ein. Sie mieteten eine Küche an und experimentierten an einer Rezeptur, die ohne Zusatzstoffe auskommen konnte. „Und es musste haltbar sein. Das in großen Mengen zu gewährleisten, das war am Anfang schon ein großes Problem“, erzählt Janine Trappe. Mittlerweile kommt das Produkt so gut an, dass sie die Produktion ausgelagert haben. Von rund 300 Bäckerfilialen beziehen sie ihr altes Brot. Pro Monat rettet Knödelkult damit bis zu zwei Tonnen an Backwaren.
Lebensmittel zu retten, scheint für den Handel eine schwierige Aufgabe zu sein, denn Supermärkte haften für ihre Produkte. Verkaufen sie etwas, mit dem sich der Kunde den Magen verdirbt, können sie verklagt werden. Deshalb wandern Produkte, die das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben oder bald überschreiten, schnell in der Tonne. Selbst wenn die Supermärkte die abgelaufenen Produkte verschenken würden, wären sie immer noch haftbar. Dieses Risiko will keiner eingehen.
Größeren Erfolg verzeichnen Apps, die Verbraucher und Händler zusammenbringen, um Lebensmittel zu retten. So wie „Too Good To Go“. Das Konzept: Metzgereien oder Bäckereien bieten kurz vor Ladenschluss bestimmte Waren in einem Paket zu einem günstigen Preis an. App-Nutzer können diese Pakete schon im Lauf des Tages reservieren und später abholen. Mit dabei sind auch die Filialen der Bäckerei Kirsamer aus Laichingen. „Wir waren schnell überzeugt von der Idee. Denn uns tut es auch weh, wenn wir unsere Waren wegschmeißen müssen“, erklärt eine Sprecherin.
Um etwas gegen die wachsende Menge an Essensresten in Restaurants und in Kantinen zu tun, hat der Biberacher Torsten von Borstel vor sechs Jahren United Against Waste gegründet. Mittlerweile berät er Großküchen in Krankenhäusern, Hotels, Pflegeheimen und Betriebsrestaurants weltweit. Unter den Kunden des Lebensmittelretters sind große Konzerne wie Ikea oder die Maritim-Hotelkette. Das Potenzial, Lebensmittelabfälle zu minimieren, sei enorm. Auf der einen Seite möchte das Hotel einen gewissen Standard bieten, auf der anderen Seite wollen die Küchenchefs so wenig wie möglich wegschmeißen. Oft geht es um Details, wie etwa Platten am Buffet zu verkleinern und dafür öfter nachlegen.
Natürlich seien seine Kunden auch am Umweltschutz interessiert, Essensreste würden aber in erster Linie des Geldes wegen eingespart, erklärt von Borstel. „Die meisten sind erstaunt, wenn wir ihnen vorrechnen, wie viel Geld sie in die Tonne schmeißen, wenn sie nicht richtig wirtschaften und viele Speisereste haben.“Dann rechnet er vor: Wenn ein Krankenhaus mit 1000 Essen pro Tag entsprechende Maßnahmen trifft, um Speisereste zu minimieren, kann es 50 000 Euro einsparen.
Inzwischen sind die Biberacher Foodsaver mit gefüllten Kisten vom Markt zurückgekehrt. Sie steuern den sogenannten Fairteiler an, ein öffentlich zugängliches Regal, an dem sich jeder bedienen kann. An der Straßenecke warten die Ersten schon darauf, sich an den gefüllten Kisten bedienen zu dürfen. „Die Sachen sind meistens sofort weg, der Fairteiler kommt unheimlich gut an“, erklärt Rainer. Deshalb benötige die Gruppe ein größeres Regal. Und einen Kühlschrank, um gekühlte Ware lagern zu können. Dabei hofft die Gruppe auf etwas Unterstützung von der Stadt. „Am besten wäre es, wenn die Politik klare Regelungen vorschriebe, damit die Händler nicht mehr so viel wegschmeißen, sondern ihre Reste abgeben“, sagt der Foodsaver. Das sieht auch der bundesweite Verein von Foodsharing so. Zusammen mit der Deutschen Umwelthilfe (DUH) fordert er verbindliche Vorgaben für Unternehmen und einen Wegwerfstopp für Supermärkte, wie es ihn in Frankreich und Tschechien gibt. Deutschland hat sich im Rahmen der UN-Nachhaltigkeitsziele zwar dazu verpflichtet, die Lebensmittelverschwendung bis 2030 zu halbieren, aber die Regierung setzt auf Freiwilligkeit. „Da es in Deutschland seit vielen Jahren üblich ist, dass zahlreiche Supermärkte unverkaufte und noch genießbare Lebensmittel auf freiwilliger Basis an die Tafeln oder andere soziale Einrichtungen abgeben, sehen wir keine Notwendigkeit für eine gesetzliche Regelung“, erklärt eine Sprecherin des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Jeder Supermarkt darf frei entscheiden, was mit bald ablaufenden Lebensmitteln geschieht.
Das Land Baden-Württemberg setzt seit Kurzem auf Aufklärung. Einen Maßnahmenplan zur „Reduzierung von Lebensmittelverlusten“hat der Ministerrat im Oktober 2018 verabschiedet. „Beispiele dafür sind Bildungsformate der Landwirtschaftsämter und Ernährungszentren, die einen wertschätzenden und nachhaltigen Umgang mit Lebensmitteln fördern“, sagt ein Sprecher des Ministeriums für ländlichen Raum und Verbraucherschutz.
Zwischenzeitlich haben sich weitere Helfer zur Biberacher Gruppe gesellt. Gemeinsam säubern sie den Fairteiler. Kommt das Thema Politik auf, sind die meisten Foodsaver der Meinung: Der Weg ist noch lang. Also werden sie weiter bei Wind und Wetter jede Woche zweimal auf den Wochenmarkt gehen – um Lebensmittel vor der Tonne zu retten.
„Heute versorgen wir 80 Haushalte mit frischem, regionalem Gemüse.“
Landwirt Stefan Grundner von der Initiative Solidarische Landwirtschaft